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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Durlacher
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immer. Das Elend kennt keine Gnade, im Gegenteil, es fühlt sich in Gesellschaft anderen Übels ausgesprochen wohl.
    Ich setzte mich nicht, es war gut, dass ich stand, ungeduldig stehen blieb, sosehr das auch wehtat. Warum sollte ich nicht stehen können, warum sollte etwas an dem Brief unseres Sohnes sein, dem zwei beziehungsweise anderthalb Beine nicht standhalten konnten? Es konnte doch nicht sein, dass das Schicksal keine zwei Monate nach dem Tod meines Vaters schon wieder etwas in petto hatte, was mich umwarf! Ich hätte Jacob den Brief am liebsten aus den Händen gerissen. Mitch schrieb nie Briefe. Auch jetzt nicht, da er in Berkeley studierte. Wir telefonierten oder skypten meistens, wenn wir miteinander reden wollten, und auch per E-Mail hielten wir Kontakt.
    Wie sehr ich jetzt die Abwesenheit meines Vaters spürte. Der Gedanke fraß mir ein kleines Loch ins Herz. Und dass es für immer war. Das verursachte einen stechenden Schmerz, einen Schock, als hörte ich es zum ersten Mal. Er hätte Mitch zurückholen können. Konnte ich es auch?
    Nach wie vor lief Herman jedes Mal von mir weg, wenn ich etwas wissen wollte, wandte mir Rücken und Hinterkopf zu. Immer sah ich ihn nur von hinten. Und sosehr ich auch versuchte, sein Gesicht zu mir her zu drehen – dreh dich um, dreh dich um! –, seinen Blick bekam ich nicht ins Bild.
    Ich musste an die Bahnfahrt nach Baden-Baden denken. Ich hatte mich über die Stille im Zug beklagt. Daran seien nur die Computer schuld, hatte ich gesagt. Alle kommunizierten nur noch mit ihrem Computer.
    Daraufhin hatte Tara plötzlich, ohne den Blick vom Fenster zu wenden, geflüstert: »Ich hack dir den Kopf ab, dreckiger Terrorist.«
    Erschrocken hatten wir sie angesehen. Tara lachte kurz, und das schmale, trügerisch kindliche Gesicht mit den schwarzen Brauen hellte sich auf.
    »Weißt du noch? Mitch mit zwölf. Und auch später noch, mit fünfzehn. Dann schrie er an seinem Computer herum, killte Deutsche oder Syrer in einem dieser tollen Kriegsspiele, die du ihm gekauft hattest. Ich höre noch, wie du dich darüber aufgeregt hast. Von wegen ›still mit dem Computer kommunizieren‹!«
Lieber Papa, liebe Mama, liebe Tess,
weil ich mir ziemlich sicher bin, dass Ihr erschrecken und überhaupt nicht mit dem einverstanden sein werdet, was ich für mich entschieden habe, teile ich Euch das Ganze lieber in einem Brief mit. Ich konnte nicht mit Euch darüber reden, als ich zu Hause war, ich hoffe, Ihr versteht das. Da war so viel anderes. Es ging einfach nicht. Es ist schrecklich, dass Opa tot ist. Aber gerade jetzt ist das, was ich vorhabe, nötiger denn je. Ich muss das tun.
Deshalb schreibe ich also erst jetzt. Am Telefon würde Mama bestimmt anfangen zu schreien, das will ich einfach nicht. Ich muss zuerst erklären können, was ich vorhabe. Ich habe das beschlossen und bin mir wirklich ganz, ganz sicher. Eigentlich weiß ich es schon lange. Schon mit zwölf habe ich alles zu dem Thema gelesen, das hängt auch mit dem Krieg zusammen, mit dem, was Opa immer erzählt hat, und damit, dass wir immer viel über Politik diskutiert haben. Papa spricht immer von den mutigen Soldaten, die ihrem Land dienen und so, und dass wir nicht da wären, wenn die US -Army Europa nicht befreit hätte. Also, in der Armee will ich auch mitmachen, gerade jetzt, wo so viel verteidigt werden muss. Semper fidelis, heißt das Motto. Semper fi. Morgen erfahre ich erst, wann ich ins Boot Camp muss, das kann ich Euch also jetzt noch nicht sagen, aber bis dieser Brief bei Euch angekommen ist, werde ich es wissen. Ich bin aber schon als Rekrut registriert. In etwa drei Monaten wird es so weit sein, hat man mir gesagt. Ich kann also gerade noch das Trimester hier abschließen, obwohl ich nebenher bestimmt schon trainieren muss.
Ich bin froh, dass ich Euch noch gesehen habe, obwohl der Anlass gar nicht trauriger hätte sein können. Opa. Er fehlt mir so unheimlich. Ihm hätte ich es auch gerne erzählt. Nach Hause werde ich jetzt wohl in nächster Zeit nicht mehr kommen. Aber ich finde das Ganze megageil, ich habe noch nie etwas so sehr gewollt. In Afghanistan werden Leute gebraucht. Ich glaube, das ist echt das Beste und Sinnvollste, was ich in meinem Leben tun kann. Dort zu kämpfen und die Menschen zu befreien. Ich hoffe, Ihr respektiert das. Habt bitte keine Angst – ich höre Mama schon, aber, liebe Mama, ich bin wirklich bei klarem Verstand. Ich möchte das schon so lange, das weißt Du doch! Bitte nicht böse

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