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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Durlacher
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verlassen kann, wegen Klausuren. Wie wär’s, wenn wir zu dritt rüberfliegen – Weihnachten?«
    Tess und ich wechselten einen Blick.
    »Warum willst du denn zu Mitch?«, fragte ich. »Wenn du ihm nur noch mal auf die Schulter klopfen möchtest, um ihm persönlich zu sagen, wie sehr du dich darüber freust, dass er Marine werden will: nein, danke. Da mache ich nicht mit.«
    Jacob sah mich nur an. Kopfschüttelnd. Der warme, mitfühlende Blick in seinen Augen, bei dem mir so jämmerlich zumute geworden war, hatte sich verloren.
    38
     
    »Weiß Mitch schon, dass ich seinen Brief jetzt gelesen habe?«, fragte ich Jacob später im Schlafzimmer.
    »Ja. Ich habe ihn darauf vorbereitet«, antwortete er.
    Sowie ich ihn schnarchen hörte, packte ich meine Sachen. Mein lädiertes Fußgelenk war dabei nicht gerade förderlich. Die Länge unserer Treppen verfluchend, musste ich meine Kleidung wohl oder übel portionsweise im Rucksack von oben nach unten bugsieren, um sie dann dort in den Koffer zu stopfen. Ich mache selten etwas heimlich, aber jetzt ging es um Leben und Tod. Erst als alles gepackt war, zog ich mich aus und legte mich ins Bett.
    Jacob schien zu schlafen, tastete aber sofort mit der Hand nach mir, als ich mich auf unsere Matratze aus viskoelastischem Schaum niederließ, die warm und weich wie Sand ist. Jede Ehe hat ihre Signale – dieses war ein Ansuchen, leicht, fast unverbindlich, mit der nötigen Zärtlichkeit. Ich erstarrte trotzdem. Seit der Sache im Wald war ich jeder irgendwie erotisch gearteten Berührung ausgewichen. Ich hatte nicht darüber nachdenken wollen, aber ich war eigentlich auch noch keinen Moment versucht gewesen, diese Haltung zu ändern. Es fragte sich, ob das je geschehen würde – was mich betraf, war das zuvor so sichere Spiel von Macht und Überwältigung ausgespielt. Sex war für mich jetzt gleichbedeutend mit Gewalt, reiner Gewalt. Sex hieß Gefahr.
    Jacob schnarchte nicht mehr, und ich wusste, dass er jetzt wach war. Sein Körper war auf jeden Fall sehr wach. Ich drückte mich tiefer in die Matratze und versuchte mich auf die Seite zu drehen, ohne dass es beleidigend wirkte, aber die Hand kroch weiter, zu meinen Schultern. Da war schon das Streicheln vom Hals zur Schulter, das Drehen der Handfläche, der vertraute Auftakt zu einem ersten Hinabwandern. Brust Nummer eins! Die Hand greift zu.
    Geh weg! Hier beginne ich, meine Körpergrenze verläuft einen Millimeter von meiner Haut entfernt. Vielleicht noch mehr. Überschreiten verboten! Das ist meine Brust! Das bin ich! Mein Herz klopfte wie wild.
    »Jacob! Nein!«
    Erschrockenes Deckenrascheln. Der Arm ergriff sofort die Flucht. Jacob war jetzt so hellwach wie ich.
    »Nein?«
    Nach der Geburt von Mitch und Tess hatte ich unter Schreckensvisionen von greulichen Unfällen gelitten, die ihnen zustoßen könnten, und zwar oft in Momenten, die kurz zuvor noch ausgesprochen erregend gewesen waren. Plötzlich war Jacob dann für mich zum fiesen Verführer mit liederlichen Absichten geworden. Schuldgefühle natürlich, eine ganz unangenehme Art von Schuldgefühlen. Lust war für mich hin und wieder unvereinbar gewesen mit der Unschuld meiner Babys, die klein und hilflos weinend in ihrem Bettchen lagen.
    Ähnliche Gefühle hatte ich jetzt auch. Die Hand auf meinem Körper rief unliebsame Assoziationen mit Schmerzen und Gewalt hervor, und die wiederum Gedanken voller Angst um Mitch. Mitch in einem explodierenden Panzer, Mitch, der auf eine Landmine trat, dessen zarte Unterlippe ein Gewehrkolben traf. Jacob und ich an einem Sarg.
    »Was ist?«, fragte Jacob.
    Er klang besorgt. Ich wusste, dass er erregt gewesen war.
    »Nicht seufzen… Ich denke an Mitch.«
    »Oh.« Er drehte sich auf die Seite. »Versuch zu schlafen, Saar. Es wird nicht besser, wenn du nicht schläfst.«
    Ich schlang die Arme um ihn. Atmete aus. Erleichtert, aber auch ein wenig schuldbewusst, weil ich etwas Manipulatives an mir erkannte.
    39
     
    Tess zog sich gerade an. Sie hatte Kopfhörerstöpsel drin und stand, verschiedene Outfits in den Händen, in Unterwäsche vor dem Spiegel. In den letzten Jahren hatte sie sich stark verändert, und erst seit kurzem kam sie einigermaßen mit dem neuen, ungewohnten Körper zurecht, der ihr zugemutet worden war. Jeden Tag wurde sorgsam eine neue Persönlichkeit gewählt, mittels Kleidung, Frisur und Make-up. Ich war mir bewusst, dass ich sie störte, hier in ihrem eigenen Zimmer, in der noch so neuen Intimität ihres dreizehnjährigen

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