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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Durlacher
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Lebens. Als ich ihren Namen rief, warf Tess einen leeren, ahnungslosen Blick über ihre Schulter – ohne wirklich etwas gehört zu haben, wie es schien. Als sie mich sah, erschrak sie, stieß einen kleinen Schrei aus und ließ sich auf den Boden sinken, die Arme um die Knie.
    »Wa, du hast mich zu Tode erschreckt!«, rief sie.
    Sie schielte von unten zu mir hoch. Tess war der geborene Clown.
    »Ich fahre weg, Liebes.«
    Sofort verzog sich Tess’ Gesicht. Panik.
    Mit Kinderstimmchen jammerte sie – wegen der Musik in ihren Ohren besonders laut: »Wo fährst du hin ?«
    Aber sie erriet es schon selbst. Sie umklammerte mich wie ein Äffchen.
    »Ich will mit, Mama!«, jammerte sie. »Ich will auch nicht, dass Mitch zum Militär geht! Ich komme mit dir mit!«
    Vorsichtig löste ich ihre langen, dünnen Arme.
    »Sch, nicht doch«, sagte ich. »Du musst zur Schule. Papa bleibt bei dir. Ich werde tun, was ich kann, wirklich. Auch in deinem Namen, okay? Und ich muss jetzt los, ich muss rechtzeitig auf dem Flughafen sein. Papa schläft noch.«
    Aber Jacob stand schon im Türrahmen.
    »Was ist denn hier los?«, fragte er. »Wo willst du hin?«
    »Ich habe einen Flug um elf«, sagte ich, ohne ihn anzusehen. »Mein Gepäck ist schon unten. Ich fliege zu unserem Sohn.«
    »Du bist verrückt«, sagte Jacob.
    Seine Haare standen zerzaust vom Kopf ab. Seine Augen waren ein bisschen verquollen, und er sah müde aus. Ich sah auf einmal, dass er älter geworden war. Vielleicht auch etwas weniger massig. Warum war ich immer böse auf ihn?
    Er sagte: »Du kannst ihn ja doch nicht umstimmen. Wirklich nicht. Aber geh ruhig. Du wirst es selbst sehen. Geh ruhig.«
    »Natürlich gehe ich«, sagte ich. »Bist du nicht sauer?«
    »Mein Gott, nein! Wenn du es für nötig hältst, geh! Geh!«
    Ich hinkte zu ihm hin und küsste ihn. Er rührte sich nicht.
    »Er muss zurückkommen«, sagte ich.
    »Du kannst es versuchen«, erwiderte er. »Aber angenommen, er hört auf dich, was dann?«
    Ich sah ihn verständnislos an. Dann humpelte ich so schnell ich konnte nach unten. Im Spiegel sah ich meine rote Nase, die geröteten Augen und die verschmierte Schminke.
    40
     
    Natürlich war Richtung Schiphol wieder Stau. Lautlos schäumte ich im Taxi vor Wut über die Massen, die ergeben (sogar Ergebenheit hatte in dieser Ballung etwas Feindseliges) auf dem Weg zur Arbeit waren. Ich versuchte ein lockeres Gespräch mit dem Taxifahrer über diese Völkerwanderung, aber das gelang nicht so recht, denn der Taxifahrer hatte einen Sohn, der in Alkmaar wohnte und nach Amsterdam zur Arbeit musste. Unweigerlich kam daraufhin die Frage nach meinen Kindern.
    Ich befand mich im Stadium der Auflösung. Das Haar saß nicht, die Augen brannten, der Kopf hämmerte, die Muskeln schmerzten – ich knarrte wie ein alter Schrank. Nicht mehr lange, und ich würde auseinanderfallen, wenn ich nicht aufpasste. Zusammenreißen!, hieß also die Devise. Ich hatte einen Auftritt, und auf den musste ich mich jetzt gut vorbereiten. Auftritte waren weiß Gott nicht meine Stärke. Ich dachte an Jacobs Worte.
    Noch aber steckte der Verkehr auf der A4 fest. Es regnete. Unweigerlich schläferte mich das Geräusch der Scheibenwischer ein.
    In Schiphol war ich trotzdem so zeitig, dass ich noch drei Stunden auf dem Flughafen totschlagen konnte. Während ich mich zwischen den anderen Reisenden treiben ließ, schweiften meine Gedanken fast zwanghaft zu Mitchs sanftem Gesicht mit den schwarzen Augen und den perfekt geformten Brauen, seinem amüsierten Grinsen, seiner übermütigen Stimme – und von dort immer wieder, quälend, zum gleichen Gesicht, in dem sich Angst und Erschrecken spiegelten.
    Die Welt war mir zwar schon früher als ein einsamer Ort erschienen, aber das war etwas anderes gewesen als diese Unbarmherzigkeit jetzt. Und mir war, als kämen Sekunde für Sekunde weitere Ängste hinzu, als teilte sich meine Angst wie ein bösartiges Geschwür in immer weitere, neue Bilder.
    Und dann das Mitleid. Ich konnte mir genau vorstellen, wie Mitch sich fühlen würde, wenn er Angst hatte, unter Fremden, wie er sich fühlen würde, wenn ihm so richtig bewusst wurde, wie weit er von zu Hause weg war, wie sehr er am Leben bleiben wollte, mit wie viel Liebe er aufgezogen worden war, wie viele schöne und nicht weniger wichtige Dinge er sonst noch hätte machen können. Wie trostlos das war, wie hart. Er hatte kaum Zeit gehabt, zu sich selbst zu finden, glücklich zu sein, ein eigenes Leben zu haben.

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