Der Sohn (German Edition)
dauerte rund zwölf Tage, bis ich die große Müdigkeit einigermaßen abgeschüttelt hatte. Jacob war umsichtig und lieb. Brachte mir Himbeeren mit, einen Strauß weißer Rosen. Rief mich zehnmal am Tag an, wie früher. Er steckte gerade mitten in der Postproduction einer neuen Fernsehserie und hatte deswegen nur einen Tag bei mir zu Hause bleiben können.
Mein Fußgelenk war noch nicht wiederhergestellt, aber ich konnte schon ganz gut damit herumhumpeln. Die Blutergüsse auf meinem Rücken färbten sich allmählich grün und gelb und taten kaum noch weh. Das Schwarz um mein Auge war zum Wangenknochen runtergewandert. Viel bewegen konnte ich mich nicht, geschweige denn joggen, und das schuf eine merkwürdige Ruhe.
Das Eigentliche behielt ich für mich, selbst Tara gegenüber. Die kam mit einem Kuchen vorbei – als wenn in Baden-Baden nichts vorgefallen wäre. Das war eine angenehme Begleiterscheinung bei so einer Gewalttat: Alles andere wurde nebensächlich, und ich wurde behandelt, als wäre ich aus Porzellan. Und dabei wusste ja gar niemand von den dreckigen dicken Fingern in meinem Unterleib und dem drohenden blauroten Ding, das mich schänden wollte.
»Oh, Saar, was musst du für eine Angst gehabt haben.«
»Ich wollte ihn umbringen, als er mich zu Boden geworfen hat. Aber er war stärker.«
»Aber du musst doch auch Angst gehabt haben? Er hätte dich vergewaltigen können!«
»Nein, ob du’s glaubst oder nicht! Ich war vor allem wütend, aber nicht wirklich ängstlich.« Ich wusste selbst nicht, warum ich das so betonen musste. »Papa war bei mir. Er hat mich beschützt.«
Musste ich sogar jetzt noch konkurrieren?
»Wirklich?«
Tara suchte sichtlich nach passenden Worten, denen man nicht anmerken würde, dass sie sich darüber ärgerte (das war unter diesen Umständen nicht erlaubt, selbst Tara nicht), wie ich unseren Vater für mich vereinnahmte, sogar jetzt noch, da er tot war. Aber sie konnte die alte Tara doch nicht ganz verleugnen.
»Wirklich? Aber hätte Papa denn nicht verdammt noch mal dafür sorgen können, dass du auf den Beinen bleibst, um dem Typ eine reinzuhauen?«
»Na…«
Und plötzlich mussten wir beide laut lachen.
33
»Saar, ich muss dir etwas sagen.«
Ich ahnte nichts Böses. Wo schon so viel passiert war. Was konnte Jacob mir da schon zu sagen haben?
»Was ist denn? Ich wollte eigentlich gerade unter die Dusche.«
»Setz dich, Saar. Du musst das jetzt wissen.«
»Was wissen?«
»Saar, es hat mit Mitch zu tun.«
Meine Beine fingen an zu zittern. Ich versuchte, sie still zu halten. Nicht setzen, nein, nicht setzen.
»Erschrick nicht. Setz dich!«
Ich erschrak aber, denn Jacobs Miene war liebevoll besorgt, und Jacobs Miene war sonst nie liebevoll besorgt. Nicht einmal nach der Sache im Wald. Da war Jacobs Miene grimmig gewesen und hatte den verbissenen Widerstreit zwischen maßloser Verärgerung über mich (weil ich mich so dumm aufgeführt hatte), Wut auf DAS TIER und – vor allem – Wut auf sich selbst widergespiegelt, weil man ihn, machtlos wie er war, als Mann gedemütigt und beleidigt hatte – und das konnte er überhaupt nicht ertragen.
Jetzt blickten seine Augen warm und mitfühlend. Voller Verständnis.
»Na sag schon. Was?«
»Du weißt doch, wovon Mitch früher immer geredet hat. Was er machen wollte, wenn er mal groß ist.«
»Mitch? Mitch wollte so vieles. Theater spielen, Computerfachmann werden, Erfinder.«
»Ach wo. Du weißt genau, was er am liebsten wollte.«
»Nein! Er wollte irgendwas Tolles. Er wollte berühmt werden. Er wollte der Held in einem Computerspiel sein. Am liebsten wollte er gar nichts tun.«
»Hör auf, Saar. Du weißt es doch ganz genau. Du weißt ganz genau, was dein Sohn wollte. Was dein Sohn will.«
Ich hätte ihn am liebsten geschlagen.
»Na? Schieß los.«
»Er hat sich verpflichtet.«
Ich hätte beinahe laut aufgelacht.
»Der ist wohl verrückt! Das kann er vergessen. Kommt gar nicht in Frage. Ist er denn von allen guten Geistern verlassen?«
»Du verstehst nicht richtig. Er hat sich verpflichtet! Er ist schon mehr oder weniger dabei.«
»Militär. So ein Quatsch. Wo denn? Wo hat er sich denn verpflichtet? Er studiert in Berkeley! Und in drei Monaten kommt er wieder nach Hause!«
»In drei Monaten ist er, wenn alles nach Plan läuft, schon im Ausbildungslager. Einem Boot Camp in San Diego. Und danach möchte er nach Afghanistan entsandt werden. Das ist die Wahrheit, Saar. So sieht es aus. Unser Sohn möchte
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