Der Sohn (German Edition)
ein Marine werden, Soldat bei der einzigen echten Elite-Einheit der US - Army. Hier. Lies.«
»Ein Marine ?« Nach sechs Jahren Amerika wusste ich durchaus, was ein Marine war. Dass das mit unserer Marine herzlich wenig zu tun hatte. Die US Marines stellten den Teil der Streitkräfte dar, der die härtesten Aufgaben und die größte Verantwortung hatte. Nicht von ungefähr wurden sie The Few. The Proud tituliert.
Jacobs Stimme zitterte ein wenig. Vor Ergriffenheit. Vor Stolz. Nicht vor Kummer, dachte ich, starr vor Schreck. Panik kündigte sich an, mit einem Kribbeln in Händen und Knien.
Darüber war er schon hinweg. Er präsentierte die Tatsachen so vorsichtig und behutsam wie möglich – mir zuliebe. Um mir zu helfen. Das machte mich rasend. Er schickte meinen Sohn zum Militär. Allein schon der Umstand, dass er den Inhalt des Briefes kannte, machte mich wütend.
Nein, nicht wütend. Mordlustig. Dann las ich den Brief.
34
Eine Woche lang hatte ich meinen Sohn jeden Tag um mich gehabt, als mein Vater im Krankenhaus lag. Wir hatten zusammen gefrühstückt, waren zusammen ins Krankenhaus gefahren – und ich hatte nichts gemerkt. Einen Brief musste er schreiben, um mit mir zu reden. Wenn Mitch früher davon gesprochen hatte, Soldat werden zu wollen, hatte ich gelacht. Mein Kind ging nicht zum Militär. Mitch würde studieren. Würde Filmregisseur werden. Arzt. Schriftsteller. Ich hatte schon so lange nichts mehr darüber gehört, zumal jetzt, da Mitch in den USA war, dass ich das Thema komplett vergessen hatte. Das war dummes Zeug. Ein Lausbubenstreich.
Mein Vater hatte nur noch deutsch mit mir gesprochen (wobei noch die Frage war, mit wem er eigentlich zu sprechen glaubte), und mein Sohn hatte mir nichts von der wichtigsten Entscheidung seines Lebens gesagt. Existierte ich überhaupt?
Das erste seriöse Vorhaben im Leben meines Kindes. So mutig wie dumm, schrecklich dumm. Und für mich wie ein Todesurteil.
Ich konnte das natürlich nicht durchgehen lassen. Ich war seine Mutter, und ich war fest entschlossen, ihm sein Vorhaben auszureden, das Ganze ungeschehen zu machen. Ich musste sofort zu ihm. Was ich tun oder sagen würde, wusste ich noch nicht. Ich hatte nur eine vage Vorstellung von mir als Ausrederin, Ungeschehenmacherin. Ich würde ihn in die Arme nehmen wie früher als Baby, wenn er Bauchkrämpfe hatte, und ihn so lange wiegen, bis er dieses falsche Vorhaben von sich gab wie ein Bäuerchen, eine Windelfüllung, eine Blase angestauter Luft. Danach würde er erleichtert und von seinen Beschwerden befreit an meiner Seite einschlafen. So in etwa. Und dann konnte er von mir aus einfach von vorn anfangen mit dem Erwachsenwerden.
»Saar?«
Ich hörte Jacob nicht. Ich hörte einen bösen Mitch, wie er vor Jahren, er muss um die zwölf gewesen sein, am Tisch sitzend knurrte: »Diesem Mann, Mama, weißt du, dem würde ich am liebsten den Kopf abhacken und die Gedärme rausreißen! Der darf einfach nicht mehr leben, Mama!«
»Mitch! Hör auf! Wieso denn das um Himmels willen?«
»Na, weil er seine Töchter umgebracht hat, darum! Der hat seine Töchter umgebracht! Weil sie ihm zu westlich waren! Ganz nette Mädchen, die gar nichts getan hatten! Oooo!« (Knurren.) »Wie gern würd ich diesen Mann in Stücke schneiden! Erst den Kopf ab, dann die Gedärme raus!«
Und darauf mein halbherziges (ich war mit den Gedanken woanders, griff gerade zu etwas, rührte, schnippelte oder war mitten in einem Telefongespräch mit meinem Vater) »Jetzt ist aber Schluss, Mitch, du willst doch wohl nicht genauso sein wie so ein widerwärtiger Mörder?«
»Warum nicht?«
»Na, darum nicht. Weil du ein guter Mensch sein möchtest. Weil du nicht so bist.« Und zu seinem Vater: »Mitch will einen Mann enthaupten und ihm dann die Gedärme rausreißen. Wie findest du das? Sollen wir das gutheißen?« Und wieder zu Mitch: »Du musst Menschen besser behandeln, als sie andere behandeln. Du musst besser sein als sie.«
»Muss ich gar nicht!«, stöhnte Mitch. »Oooo, wie gerne würde ich… Hätte ich doch bloß ein Gewehr!«
35
Als ich hörte, dass Mitch sich verpflichtet hatte, dachte ich es zum ersten Mal: Nach etwas Grauenhaftem – einem Krieg, einem Unfall, einem Mord oder überhaupt jeglichem Todesfall, einer Scheidung, einem Bankrott – braucht man wirklich nicht damit zu rechnen, dass man nun vorerst vom Schicksal verschont bleibt. Weil man schon so gebeutelt wurde, weil man es schon so schwer hat oder was auch
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