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Der Sokrates-Club

Der Sokrates-Club

Titel: Der Sokrates-Club Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Weidenfeld , Julian Nida-Ruemelin
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Adjunktion« bezeichnet wird, sind wahr, wenn (mindestens) einer ihrer Gliedsätze wahr ist. Die Aussage ist also wahr. Sie werden allerdings aufgrund ihrer Äußerung vermuten, dass Ihr Kind nicht weiß, ob sich die Schultasche im Wohnzimmer oder in der Garderobe befindet. Insofern hat das Kind den Adressaten mit seiner Äußerung irregeführt. Wenn es wusste, dass Sie aufgrund dieser Aussage annehmen würden, dass Ihr Kind nicht wüsste, wo sich die Schultasche genau befindet, dann war die Äußerung des Kindes unwahrhaftig, obwohl wahr. Man kann mit wahren Äußerungen lügen, denn » Unwahrhaftigkeit« und » Lüge« meint dasselbe, auch wenn möglicherweise die Verwendung des Ausdrucks » Lüge« eine stärkere moralische Verurteilung zum Ausdruck bringt als lediglich » Unwahrhaftigkeit«. Lügen bedeutet also zunächst, etwas zu sagen, von dem ich weiß, dass es falsch ist, und zugleich annehme, dass es mir geglaubt wird. Lügen heißt wissentlich eine falsche Überzeugung hervorzurufen oder wenigstens zu beabsichtigen, eine falsche Überzeugung hervorzurufen. In diesem Sinne kann man mit der Wahrheit lügen. Wenn eine Person etwas sagt, das wahr ist, und davon überzeugt ist, dass es wahr ist, aber zugleich annimmt, dass diese Äußerung eine Überzeugung hervorrufen wird, die falsch ist, dann ist sie unwahrhaftig, dann lügt sie, obwohl sie die Wahrheit sagt.
    »Na ja, jeder weiß ja, dass er nicht der Froschkönig ist …«
    Lügen aus Konvention und Selbstschutz
    Ein Schauspieler, der auf der Bühne sagt: Ich bin König Lear!– lügt nicht, obwohl er weiß, dass das falsch ist, weil er nicht davon ausgehen muss, dass die Adressaten dieser Äußerung, das heißt die Zuschauer im Theater, glauben, dass das wahr ist. Es gehört zur Konvention des Theaters, Fiktionen zu erzeugen. Dies gilt ebenso für Kinder, die, wie unser Gespräch deutlich werden lässt, durchaus unterscheiden können zwischen Lügen und falschen Aussagen, die vor konventionellem Hintergrund, in diesem Fall dem Theater, gemacht werden.
    Aber auch das Kind, das, nach seinem Befinden befragt, antwortet: » Ach, ganz gut«– lügt nicht, auch wenn es ihm schlecht geht und es weiß, dass es ihm schlecht geht, weil es aufgrund einer Höflichkeitskonvention davon ausgehen kann, dass eine solche Mitteilung nicht wörtlich genommen wird. Ja, möglicherweise wäre es sogar unhöflich, den wahren Seelenzustand zu offenbaren, da das die fragende Person mit Informationen konfrontierte, mit denen sie nur schlecht umgehen kann, und bei denen sie unsicher ist, ob sie nun Mitleid zeigen soll, ihre Hilfsbereitschaft anbieten etc. Die in den Medien immer einmal wieder auftauchende These, Erwachsene würden täglich zweihundert Mal lügen, beruht auf einer begrifflichen Konfusion. Diese hohen Zahlen können nur zustande kommen, wenn man einbezieht, was im Amerikanischen ganz treffend white lies, weiße Lügen, genannt wird, also Äußerungen, deren Unwahrheiten nicht als Lügen gelten, da sie einer Konvention entsprechen. Auch das Recht akzeptiert diese weißen Lügen. So darf man in Vorstellungsgesprächen lügen, wenn man nach persönlichen Lebensumständen gefragt wird, die in einem solchen Einstellungsgespräch keine Rolle spielen dürfen. Hier die Antwort zu verweigern oder gar die Wahrheit zu sagen, könnte die eigene Position schädigen.
    Viele Eltern wünschen sich Kinder, die ihnen gegenüber nie lügen. Das ist verständlich, denn das enge Vertrauensverhältnis wird durch Lügen immer belastet. Aber Eltern sollten wissen, dass Kinder ihre Rolle in der Welt auch dadurch einzuschätzen lernen, dass sie anderen ein Bild von sich vermitteln, wie sie es gerne möchten. Ja, manche Kinderpsychologen sind davon überzeugt, dass Kinder, die nie versuchen zu täuschen, die nie lügen, eine problematische Entwicklung nehmen. Kinder müssen lernen, zwischen » weißen« und » schwarzen« Lügen zu unterschieden, zwischen Täuschungen, die akzeptabel sind, weil der Adressat nicht unbedingt davon ausgeht, dass ihm die Wahrheit mitgeteilt wird, Täuschungen, die akzeptabel sind, um die eigenen Privatsphäre zu schützen, zum Beispiel das Tagebuchschreiben bei Heranwachsenden, Täuschungen, die das Allerheiligste, zum Beispiel eine Verliebtheit, gegenüber Interventionen von Eltern oder anderen Jugendlichen schützen, und Lügen, die andere schädigen, zum Beispiel durch üble Nachrede, oder die eigene Integrität gefährden, zum Beispiel die Verheimlichung von

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