Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
Sie spült sich den Mund aus, schaufelt Wasser in ihr Gesicht, greift nach dem Rollhandtuch, doch das ist so grau und schmierig, dass sie sich lieber für Klopapier entscheidet. Das drückt sie an ihr Gesicht und denkt an die gespensterhaften Lichtpünktchen vor ihren Augen. Solche Erscheinungen können eine Migräne ankündigen. Dann senkt sich ein tagelanger Nebel auf sie. Sie blinken wie Glühwürmchen. Die Glühwürmchen kommen immer, wenn sie zu viel Kaffee trinkt oder in grelles Licht sieht, oder auch zu Beginn ihrer Periode. Sie erinnert sich sogar an das letzte Mal. Es war Ende April, und in New York tobte ein Sturm vom Hudson her, scheuchte Schmutz und Zeitungspapier vom Bürgersteig, blies ihr Staub in die Augen, in die Haare und in jede Naht ihrer Kleidung. Ihr fällt ein, dass sie an diesem Tag tatsächlich ihre letzte Periode gehabt hat.
Einen Moment lang steht sie reglos da, das Klopapier ans Gesicht gepresst. Dann nimmt sie es weg und betrachtet sich im Spiegel. Ihr Gesicht wachsbleich, ins Gelbliche spielend, die Augen eingesunken und gleichzeitig geweitet. Ungläubig starrt sie sich an. Ihr ist, als sei sie so nicht hergekommen. Diese Aoife im Spiegel ist ein völlig anderer Mensch.
Sie schleppt sich zurück, wobei sie die Bewegungen des Schiffs dazu zwingen, sich mal am linken, mal am rechten Handlauf weiterzuziehen. Schließlich drückt sie die mit Gischt besprühte Decktür auf.
Mag woanders die Hitze herrschen, hier auf der Irischen See ist davon nichts zu spüren. Augenblicklich greift der Wind in ihre Haare und will ihr die Kleider vom Leib zer ren. Sie senkt den Kopf und kämpft sich bis zur Absperrung vor, wo sie sich festhalten kann. Sie sieht, wie tief der rostige Schiffsrumpf in die graue kochende See eintaucht. Im Kielwasser fliegt Schaum auf, der sofort wieder von den Wellen eingefangen und verschluckt wird. Aoife kann nicht sagen, was ihr ins Gesicht bläst, Regen oder Gischt. Sie will jetzt etwas rufen, irgendetwas, nur um zu erfahren, wie klein und wirkungslos ihre Stimme vor den tobenden Elementen ist.
»Verdammte Scheiße«, brüllt sie. »Gottverdammte Scheiße.«
Sie kann nicht einmal sich selbst hören. Sie weiß nur, dass Gehirn, Zunge und Mund alles tun, diese Wörter zu bilden. Sie klammert sich an die kalte Reling, stützt den Kopf in ihre Hände und spürt sowohl die brummenden Maschinen als auch die Brecher an der Bordwand.
Das erste Mal hat sie wann mit Gabe geschlafen? Sie schlägt die Augen auf, sieht ihre nassen Finger, sieht den Rost und den dicken weißen Anstrich mit der Konsistenz von Karamellbonbons. Ihr Verstand verliert sich im Nichts, kann nirgendwo festmachen, aber die Antwort kennt sie trotzdem.
April. Der Morgen, an dem sie nach Connecticut aufbrach.
Ihr Reisewecker schrillte um sechs Uhr früh und riss sie aus einem Traum, in dem sie durch den Clissold Park radelte. Plötzlich war sie in einem Zimmer, das sich praktisch über Nacht total verändert hatte. Bislang war sie hier immer allein aufgewacht, nur nicht an diesem Morgen. Sie schlug nach dem Wecker und stieß ihn dabei auf den Boden, wo der Deckel über dem Zifferblatt zuklappte und das Klingeln nur noch dezent und wie entschuldigend zu hören war.
Gabe neben ihr grunzte und rollte sich zur Seite, wobei er seinen Arm über sie legte. »Ich hoffe«, murmelte er in ihr Haar, »du hast eine gute Entschuldigung, mich so früh am Morgen zu wecken.«
»Hmm«, sagte sie und wischte sich die Haare aus den Augen. Um diese Tageszeit war sie nicht annähernd so gesprächig wie Gabe. Sie setzte erst das eine, dann das andere Bein auf den Boden, stand auf und suchte etwas zum Anziehen. Sie fand eine Hose, die sogar ihre war, Gabes Sweatshirt sowie ein paar Socken, die weder ihr noch zueinander passten.
Als Gabe sich endlich aus dem Bett bequemte, war sie bereits angezogen, saß mit gemachten Haaren vor ihrem Morgenkaffee und malte sich die Lippen an.
»Wie schaffst du das eigentlich, ohne Spiegel?«, fragte Gabe von der Tür aus und sah zu, wie sie den Lippenstift zumachte. Sie mussten beide grinsen und sahen dann woanders hin. Er griff nach ihrer Tasse und nahm einen Schluck.
»Himmel!«, sagte er und zog eine Grimasse. »Hat dir noch niemand gesagt, dass du echt miesen Kaffee machst?«
Sie stand auf. »Nein. Aber die anderen, die mir meinen Kaffee weggetrunken haben, waren auch höflicher.«
Er folgte ihr zur Spüle und legte von hinten den Arm um sie. »Bestimmt irgendwelche Affen ohne
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