Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
Claire und Aoife, die abwechselnd Vita auf den Schoß nehmen. Für Hughie ist nur hinten im Kofferraum Platz, wo er bei jeder Kurve über das Gepäck rutscht.
Auf der ersten Etappe, vom Hafen in Cork (einschließlich aller Umwege) bis zur Straße nach Norden saß Aoife noch in der Mitte, eingeklemmt zwischen Claire und Monica. Aber schon kurz hinter der Stadtgrenze musste sie zum ersten Mal raus und sich zwischen den großen Ampferblättern am Straßenrand übergeben, zwei Meilen weiter erneut und dann noch einmal hinter einer rumpeligen Brücke. Danach bekam sie einen Fensterplatz, wobei das Fenster offen blieb und immer frischen Wind hereinließ. Hinten auf den billigen Plätzen klagte Hughie über den Luftzug und das wuschige Gefühl in seinen Haaren, aber Gretta meinte, er solle jetzt kein Theater machen, das fehlte noch.
Allein Monica bemerkte daraufhin Claires Kopfbewegung und den unergründlichen Blick, mit dem sie ihrem Sohn eine Botschaft zukommen ließ.
Danach war erst einmal Ruhe.
Michael Francis konzentriert sich ausschließlich auf den fahrerischen Aspekt der Reise. Hinter Limerick geht es schnurgerade weiter nach Galway, erst dann nach links Richtung Küste. Trotzdem ist ihm die Nähe seiner Frau, die hinten mit seiner Tochter sitzt, sehr bewusst. Aber an seine Frau will er jetzt nicht denken, nicht einmal daran, dass sie überhaupt mitgefahren ist und dafür ihr Tutorium hat sausen lassen. Über nichts davon will er jetzt nachdenken, egal was es bedeutet oder bedeuten könnte. Worüber er ebenfalls nicht nachdenken will: seinen Vater und seine erste Ehe mit diesem Mädchen aus Sligo, seinen Onkel, der mit ihr noch am Hochzeitstag abgehauen war, sowie die Möglichkeit, dass irgendwo noch ein weiterer Verwandter sein könnte.
Aoife lässt sich die Luft ins Gesicht wehen. Sie hat die Augen geschlossen und entwirft in ihrem Kopf das Kommunikations-Schnittmuster der Insassen dieses Fahrzeugs. Eine durchgehende Linie zwischen zwei Personen bedeutet, sie reden noch miteinander, eine gepunktete Linie bedeutet, sie reden nicht mehr miteinander. Zur zweiten Kategorie zählen: sie und Monica, Monica und Gretta, Michael Francis und Claire sowie Hughie und Vita, Anlass war eine Tüte Gummibärchen. Sie sieht auch ihren Vater, wie er die Straßen von Dublin nach seiner Braut und seinem Bruder absucht. Um wen von den beiden ging es ihm eigentlich mehr? Sie kleidet die Geschichte weiter aus. Ihr Vater fragt in den Pensionen am Hafen nach. Für das Gesicht der oder des Gesuchten braucht er keinen Steckbrief, es ist unerträglich vertraut. Sah ihm Frankie eigentlich ähnlich? Sie meint, ihm seine knisternde Wut nachfühlen zu können, diese ungeheure Enttäuschung. Wie ist das, wenn der eigene Bruder dich so hintergeht und dir dein Mädchen stiehlt? Dagegen sind Monicas Gedanken schlichterer Natur: Sie hasst diesen Wagen, sie hasst die ganze Fahrt und jeden, der dabei ist. Sie wünscht, sie wäre nie mitgekommen oder hätte wenigstens nicht dieses leichte Wollkleid angezogen, denn im Auto ist es eng. Garantiert ist es völlig zerknittert, wenn sie ankommen. Wenn sie denn irgendwann einmal ankommen.
Ab und zu blickt Claire auf den Hinterkopf ihres Mannes. Ansonsten sieht sie nur die Hände am Steuer und Teile der Augenpartie im Rückspiegel. Sie sieht auch, wie sich der Fahrersitz durchdrückt, wenn er sein Gewicht verlagert. Dieser Widerstreit der Gefühle, wenn ein vertrauter Mensch plötzlich so fremd wirkt. Sie spürt Vitas kleinen kompakten Körper und die kleinen Fersen, die auf ihre Schenkel drücken. Sie dreht sich um, und sofort ist Hughie wach und hebt den Blick. Er wartet immer noch auf eine Erklärung für Grettas Reaktion und des Weiteren auf nichts weniger als eine Gebrauchsanweisung für die Welt. Wie soll er sich in dieser Welt verhalten, wie reagieren, was darf er von ihr erwarten? Claire aber sendet ihm nur ein beruhigendes Lächeln, und selbst damit ist er hochzufrieden und legt sich wieder friedlich zwischen das Gepäck.
Und Gretta? Gretta denkt über die Wechsel- und Zufälle des Lebens nach, und wie der eigene Mann plötzlich verschwinden kann und man sucht überall, schaltet die Polizei ein und durchsucht seine Sachen, wo eigentlich nur ein Anruf von einem Vetter nötig ist, und alles löst sich in Wohlgefallen auf.
Darüber muss Gretta nun herzlich lachen, auch wenn sie nur versonnen vor sich hin lächelt. Sie hat es wieder allen gezeigt. Hat sie nicht von Anfang an gesagt, allen voran
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