Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
Mutter starb zwei Monate nach ihrem letzten Besuch. Sie fiel einfach vor dem Haus um und hat nicht gelitten, wie ein Cousin später am Telefon sagte. Ein Blutgerinnsel im Hirn. Gretta hat sich diesen Vorgang später oft als Knubbel in einem Bindfaden vorgestellt, der sich langsam durch das Hirn ihrer Mutter schiebt – bis sie vor der Tür steht, dem Ort ihres Todes. Aber ging sie gerade aus dem Haus oder hinein? Wollte sie, die Hände in die Hüften gestemmt, nur eben nach dem Wetter sehen, oder geschah es auf dem Weg zum Hühnerstall? Für Gretta bis heute ungelöste Rätsel. Man wusste nur, dass der Milchabholer sie tot vor dem Haus fand.
Natürlich ging die Farm dann an Grettas ältesten Bruder, der sie verkaufte, ehe er nach Australien auswanderte. Gretta kann ihm das bis heute nicht verzeihen. Danach kamen sie immer seltener nach Irland. Bis der alte Onkel, der allein auf der Insel gelebt hatte, sein Cottage an Gretta vermachte. Als junges Mädchen war sie zweimal die Woche (wenn es kalt war, sogar noch öfter) über den breiten Strand gewandert und hatte ihm Eier, Milch, Brot und Kuchen gebracht. Übrigens auch bei Sturm und hoher See. Ihr gefiel nicht, dass er da so allein in diesem Cottage wohnte. Da ist sie ja, sagte er immer, wenn er sie erblickte und den Spaten weglegte. Dann gab sie ihm den Korb mit Lebensmitteln, und er klopfte ihr kurz auf die Schulter. Später saß sie bei ihm in der Küche, räumte auf und machte ihm Tee und Spiegelei. Nach einer Weile sagte er: Die Flut kommt. Dann wusste sie, dass es Zeit wurde für den Heimweg.
Trotzdem war sie sehr überrascht, als sie den Brief von dieser Kanzlei in Clifden erhielt. Warum hatte der Onkel ausgerechnet ihr den Vorzug gegeben, es gab doch so viele Brüder und Schwestern und Vettern ersten und zweiten Grades. Deswegen hatte es sogar böses Blut gegeben, vor allem im Galway-Zweig der Familie. Aber Gretta kümmerte das alles nicht. Der Onkel hatte ihr das Haus auf Omey Island vermacht, was bedeutete, dass sie, wann immer sie wollten, nach Irland zurückkonnten. Den größten Teil des Jahres vermietete sie das Cottage und verdiente sich ein hübsches Sümmchen nebenbei. Nur der August blieb für die Riordans reserviert, für sie und ihre Brut und niemanden sonst. Bei ihrem ersten Sommer auf der Insel war Aoife drei, Monica dreizehn, Michael Francis vierzehn Jahre alt. Abends trat Gretta vor die Tür und rief alle zum Essen. Und alle kamen, kamen vom Steilufer, vom See, wo sie geangelt hatten, vom Strand oder von dem angepflockten Esel, mit dem man reden konnte. Monica war zwar nur ein paarmal mit dabei, weil sie dann schon mit Joe ging, aber Aoife begleitete sie viele Jahre lang. Nur sie beide, zusammen in dem Cottage. Hier verstanden sie sich immer besser als in London, und es gab nicht annähernd so viel Streit.
Gretta setzt sich gerade hin und dreht den Kopf weg, weil sie unauffällig ein paar Wurstreste aus den Zahnzwischenräumen entfernen will. Wo ist eigentlich Aoife? Sie wollte nach draußen, eine rauchen, aber das war schon in Swansea. Sie könnte wirklich langsam wiederkommen.
»Wo steckt deine Schwester?« Sie schubst Monica an, die sich immer noch schlafend stellt. Gretta weiß zwar, dass Monica gerade nicht mit ihr spricht, aber das überspielt sie. Bei Monica klappt so etwas normalerweise.
»Ich weiß nicht«, sagt Monica etwas zu schnell für jemanden, der eben noch im Tiefschlaf lag. Gretta nickt, hochzufrieden. Sie hatte doch gewusst, dass Monica nur so tat.
Monica richtet den gefalteten Pulli gerade, den sie sich unter den Kopf geschoben hat. Seit ihrem lautstarken Streit bei Michael Francis herrscht zwischen ihnen eisiges Schweigen. Die ganze Sache hat sie zu sehr verletzt, als dass Gretta jetzt ohne Entschuldigung oder Erklärung davonkommen soll. Die verdammte Scheinheiligkeit dieser Frau, das Lügennetz, das sie gesponnen hat. Sie braucht nur daran zu denken, was Gretta sagte, als sie herausfand, dass Monica schon vor der Hochzeit mit Joe geschlafen hatte. Welche Wörter sie ihr an den Kopf schmiss – und dass sie einst in der Hölle schmoren würde. Als sich dann aber herausstellte, dass Gretta selbst, ihre eigene Mutter, in einer dauernden Todsünde lebte, tat sie Monica wieder leid. Es stellte alles auf den Kopf, was Monica bisher geglaubt hatte, und genau deshalb konnte sie es immer noch nicht fassen.
Die Strategie ihrer Mutter, mit der eigenen Schuld umzugehen, ist einfach, aber effektiv: Sie tut unschuldig – als
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