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Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Titel: Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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sei überhaupt nichts passiert. Dicke Luft und frostige Stimmung quasselt sie weg. Das macht sie jedes Mal, und wenn Monica um eine Aussprache bittet, guckt sie gekränkt und sagt: Ja, aber natürlich. Wir können doch über alles reden, das weißt du doch. Genau das geschieht aber nie. Im Augenblick fächelt sie sich übrigens mit dem Fahrplan der Fähre Luft zu. Sitzt da in ihrem Polyesterkleid mit Farnmuster, das ihr zu eng ist und am Rücken schon ganz durchgeschwitzt, und summt vor sich hin. Monica weiß genau, was dieses Summen bedeutet. Es bedeutet, sie stellt ihre gute Laune wieder her, etwa so, wie ein Dachdecker ein undichtes Dach repariert. Wenn Gretta summt, verschwindet alles Unschöne. Ihr Schwager von der IRA: weg. Ihr verschwundener Ehemann: weg im doppelten Sinn. Ihre jahrzehntelange wilde Ehe: nie passiert. Alles ganz normal, alles schön.
    Gretta dreht den Kopf mal hierhin, mal dorthin. Monica kennt auch das nur zu gut. Gretta sucht jemanden, irgendjemanden, den sie volllabern kann. Monica kommen erste Mordgedanken. Das sieht ihrer Mutter ähnlich. Dabei dürfte sie jetzt nur eines tun, nämlich auf die Knie fallen und um Vergebung bitten dafür, dass sie alle ein Leben lang belogen hat.
    Gretta hat ein älteres Ehepaar auf der anderen Seite des Gangs ausgemacht, dem sie ein oberpeinliches »Na, heiß genug für Sie?« zuruft. Die armen Leute heben den Kopf wie aufgeschreckte Schafe, aber Gretta hat bereits den Fuß in der Tür, sozusagen. Sie rutscht ein paar Sitze weiter und fragt: »Fahren Sie auch in Urlaub?« Innerhalb kürzester Zeit, das weiß Monica, hat sie ihnen nicht nur die komplette Familiengeschichte abgepresst, sondern auch ihren Reiseplan. Und natürlich ist Gretta nur allzu bereit, ihren Teil zur Unterhaltung beizutragen.
    Es ist irgendwann um Mitternacht. Aoife weiß es nicht so genau, denn der Fahrgastraum auf Deck B ist immer noch neonhell erleuchtet, obwohl die meisten Leute schlafen. Auf jedem Gang haben die Leute Schlafsäcke und Decken ausgebreitet, versperren Türen, liegen auf Tischen und Fensterbänken und schlafen. Hinten vor der geschlossenen Cafeteria schnarcht jemand vernehmlich. Die Maschinen dröhnen, das Schiff stampft. Aoife, die sich auf zwei Sitzen eingerichtet hat, versucht, nicht hinzusehen, wie der Boden sich neigt und die Deckenlampen schwingen und Türen von selbst auf- und zugehen. Sie versucht, an etwas anderes zu denken, an das Delta der Risse in ihrer New Yorker Zimmerdecke zum Beispiel, an die unterschiedlichen Entwicklungszeiten für bestimmte Negativfilme, an die Art, wie sich Gabe mit dem Fingerknöchel die Brille hochschiebt, die korrekte Handhabung des Vergrößerers und diverser Filteraufsätze. Sie beruhigt sich damit, dass das Schiff ja nach Westen fährt, also letztlich nach New York, zu ihrem wahren Leben. Nicht mehr lang und sie ist wieder da und kann die Sache mit Gabe in Ordnung bringen. Aber ständig kommen neue Wellen angerollt, das Schiff stampft immer stärker, der Typ hinten schnarcht, und das Lüftungsgitter über der Cafeteria rappelt.
    Plötzlich fährt sie hoch und steht auf, steigt über Körperteile und Taschen ihrer Familie. Gretta murmelt irgendetwas, wacht aber nicht auf.
    Aoife schafft es bis in den Gang, das Ziel klar vor Augen. Sie hat nämlich nur noch dieses eine Ziel. Endlich ist die Tür zu den Toiletten erreicht, eigentlich braucht sie nur noch über die Eisenschwelle zu steigen. Sie konzentriert sich auf eine ganz bestimmte Kabine und hätte es auch fast geschafft, wäre da nicht dieser intensive Geruch nach Kotze gewesen, in den sie wie in eine Nebelbank eintaucht. Ansonsten sind ihre Bewegungen streng ökonomisch. Sie weiß, ihr bleibt nicht mehr viel Zeit, die Kabine ist jetzt schon unerreichbar. Also weicht sie auf das Waschbecken aus, gerade noch rechtzeitig. Sie rafft die Haare zurück, schließt die Augen, macht sich bereit. Trotzdem krümmt sie sich, als der erste Schwall aus ihr hervorbricht. Alles ins Waschbecken, einmal, zweimal. Qualvoll sogar noch ein drittes Mal. So übel wie jetzt war ihr noch nie in ihrem Leben, und entsprechend fühlt sie sich. Ihre Kehle verätzt von Magensäure, ihr Magen verkrampft wie eine ge ballte Faust. Kleine Pünktchen tanzen vor ihren Augen, die bösen Kobolde aus ihrer Kindheit. So kommt sie nie nach Irland, wahrscheinlich stirbt sie vorher. Verreckt neben einem vollgekotzten Klo, ohne je wieder Land zu sehen. Ehe sie die Augen öffnen kann, dreht sie den Wasserhahn auf.

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