Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
den Gedanken kam, sie hätten etwas miteinander zu schaffen.
»Und sonst fehlt nichts von ihm?«, fragt Aoife unten. »Soll ich mal nachsehen?«
Was ist da los, fragt sich Michael Francis in seinem zu kleinen Bett. Ist ihr Roberts Verschwinden auf die Stimmbänder geschlagen, oder warum sagt sie nichts?
Aber für diesen Gedanken schämt er sich sofort.
Er hievt sich aus dem Bett und geht nach unten. Schon an der Wohnzimmertür erkennt er die Ursache für ihre Schweigsamkeit. Grettas Kopf steckt tief in einem Schrank.
Etwa zweimal im Jahr packt sie nämlich der Wahn, dann muss sie »ausmisten«, wie sie sagt. Diesen seltenen Anfällen von Hausarbeit gehen in der Regel irgendwelche Unstimmigkeiten mit ihrer Umwelt voraus. Ein kleiner Streit mit Bridie reicht schon. Oder der neue Priester, der sie angeblich »so komisch ansieht«. Oder jemand drängelt sich in der Schlange nach vorn. Eine häufige Ursache sind auch Ärzte, die ihre Selbstdiagnosen nicht ernst nehmen. Ein, zwei Tage lang wird dann das ganze Haus auf den Kopf gestellt, werden Regale ausgeräumt, Schränke geleert, Schubladen ausgekippt, wird Tischwäsche und der ganze gesammelte Ramsch auf verschiedene Haufen verteilt. Das Porzellanpferdchen mit dem fehlenden Bein ebenso wie die mit Halbedelsteinen verzierte Schnupftabakdose oder die zierliche Teetasse ohne Henkel mit einer chinesischen Hofdame auf einer Brücke. Die gehorteten Schätze eines ganzen Lebens, erstanden, ergattert und nie wieder losgeworden auf Kirchenbasaren und in den Trödelläden der Gegend, sie werden jetzt gnadenlos aussortiert. Ein Stapel für das, was sie behalten, einer für die Sachen, die noch zu »retten« sind, und einer zum Weggeben. Doch kurz darauf verliert sie das Interesse an ihrer Ordnungswut, und alles wandert wieder an seinen alten Platz. Und genau deshalb sind Kaminsims und sämtliche Schränke und Regale am Ende wieder so vollgestopft wie zuvor. Bis zum nächsten Mal.
»Guten Morgen«, sagt er. »Du bist beim Aufräumen, sehe ich?«
Sie zieht den Kopf aus dem Schrank, und sie blickt ihn über die offene Schranktür an. Allerdings ist ihre Miene so verwirrt, dass seine Gereiztheit sofort in sich zusammenfällt. Ihm wird klar, dass sie ihn – ganz kurz – mit seinem Vater verwechselt hat. Zumindest von der Stimme her sind sie sich ziemlich ähnlich, und in ihrem Alter kann das eine Herausforderung sein.
Er geht auf sie zu und umarmt sie. Natürlich ziert sie sich, aber sie drückt ihn ebenfalls. Ihr Korallenring piekst ihn im Rücken. Und dann kommt jemand aus der Küche geschossen, jemand mit einer Unmenge Haar, der sich ihm mit entschlossenem Griff an den Hals wirft. »Aoife!«, sagt er, auch wenn er es immer noch nicht glauben kann, denn sie sieht so anders aus.
»Hey, lass dich ansehen«, sagt er und schiebt sie etwas weg. Aber alles, was ihm einfällt, ist: »Mein Gott!«
»Na, das ist aber eine schöne Begrüßung.«
»Du siehst so …« Doch er bringt den Satz nicht zu Ende, denn er weiß nicht, was er überhaupt sagen will. »So anders« passt nicht, denn es ist ja immer noch und unbestreitbar ein und dieselbe Aoife. Trotzdem ist sie nicht wiederzuerkennen, auf der Straße wäre er glatt an ihr vorbeigegangen. Sie hat sich die Haare wachsen lassen, aber daran liegt es nicht. Ihre Kleidung hat sich verändert, besteht nicht mehr aus selbstgemachten Hippie-Klamotten, sie trägt jetzt Röhrenhosen mit Reißverschluss am Bein und ein T-Shirt mit hochgerollten Ärmeln.
Er und seine Mutter betrachten sie von Kopf bis Fuß.
»Jetzt schau sie dir an«, sagt er.
»Ich weiß«, sagt Gretta.
»Was ist mit euch? Stimmt etwas nicht?«, blafft Aoife, muss aber ebenfalls lächeln.
»So erwachsen geworden …«, sagt Gretta und tupft sich mit dem Ärmel die Augen.
»Ach, hört doch auf. Ich bin schon lange erwachsen, bloß habt ihr das nie gemerkt.« Sie dreht sich um und steuert wieder auf die Küche zu. »Wer will Tee?«
Aoife hält den Kessel unter den Wasserhahn, doch das Wasser schießt seitlich am Kessel vorbei und spritzt auf ihre Hand. Irgendetwas stimmt hier nicht. Das Haus, das sie seit Kindesbeinen kennt, spielt mit ihr. Türen, durch die sie zehntausend Mal gegangen ist, sind plötzlich enger als gedacht und stoßen sie am Arm. Teppiche, auf denen sie als Baby lag, auf denen sie später laufen gelernt hat, wollen sie jetzt zu Fall bringen. Regale sind nicht mehr so hoch wie früher, dafür aber in der Lage, ihr gegen den Kopf zu knallen.
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