Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Titel: Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
Vom Netzwerk:
bitten darf.
    Das Babyschreien wird von Aoife Riordan gehört. Sie geht mitten auf der Straße und wendet den Kopf. Ihr Blick wandert über geschlossene Vorhänge, über die fusseligen Blüten der Hortensie im Vorgarten, das Dreirad auf dem Weg, doch sie sieht nichts von alledem, registriert diese fremden Daseinsformen gar nicht. Sie hat ja nicht einmal das Kinderschreien bewusst wahrgenommen, auch wenn sie sich danach umdreht.
    Denn diese Straße löst in Aoife höchst beunruhigende Gefühle aus. Die Straße ist ihr vertraut, vertraut etwa wie ihre eigene Hand, und zugleich fremd. Dass sie um sechs Uhr früh durch diese Straße läuft, ist so surreal wie ein Traum. Was macht sie hier? Wie kommt sie hierher und das buchstäblich über Nacht? Wie gelangt sie aus ihrer Wohnung in New York, wo zum ersten Mal seit Wochen auch Gabe übernachtet, auf ihre alte Straße? Früher ist sie tausendmal hier entlangge gangen, es war ihr Weg zur Schule, ihr Weg zum Laden an der Ecke, wo sie für ihre Mutter Zigaretten und Mehl eingekauft hat, ihr Weg zu dieser fürchterlichen Tanzschule, ihr Weg vom Schachclub nach Hause, ihr Weg von der U-Bahn. Sie fühlt sich leicht benommen, und etwas übel ist ihr. Drei Jahre lang hat sie gedacht, dass sie niemals in die Gillerton Road zurückkehren würde, und plötzlich steht sie genau da. Dort sind die Bäume, die allmählich die Platten des Bürgersteigs knacken. Hier die kleinen Gartenwege. Hier ist auch die Betonmauer mit der keilförmigen Krone, die sich über die Breite von fünf Grundstücken erstreckt. Auch ohne Berührung weiß sie, wie sich diese Mauer anfühlt, nämlich wie Sandpapier. Sie weiß auch, dass man sich besser nicht daraufsetzt, zu unbequem ist diese niederträchtige obere Kante. Außerdem schrammt man sich beim Hinunterrutschen den Wollrock der Schuluniform auf. Die erwachsene Aoife merkt plötzlich, dass genau das der Zweck der abgeschrägten Mauerkrone war: nämlich andere Menschen, Kinder vor allem, davon abzuhalten, sich auf die Mauer zu setzen. Plötzlich ist sie angewidert von Leuten, die solche Grundstücksmauern errichten. Was sind das für Menschen, die einem Kind verwehren wollen, sich dort kurz auszuruhen, wenn es aus der Schule kommt.
    Aoife versetzt der Mauer einen Tritt.
    Dann geht sie weiter die Gillerton Road entlang. Noch elf weitere Häuser, und sie ist da.
    Sie hebelt ihre Tasche höher auf die Schulter. Es ist Gabes Seesack. Ihren einzigen Koffer hat es schon vor Jahren zerlegt, und dieser Seesack ist seltsam tröstlich. Gerade in sei nem zerschlissenen Zustand erzählt er viel von Gabe, und deshalb ist sie froh, ihn dabeizuhaben. Sonst könnte es sein, dass sie tatsächlich in die Vergangenheit gesogen wird, ganz als würden er und New York gar nicht existieren. Aber der Seesack beweist das Gegenteil, sie hat nichts erlogen.
    Sie schaut hoch in die Bäume. Weißbirken mit herzförmigen Blättern und blätternder Borke. Die Tatsache, dass es sich um Weißbirken handelt, ist ihr vorher noch nie aufgefallen. Aber es geht ihnen nicht gut. Wann haben sie zuletzt Wasser bekommen? Schwer zu sagen.
    Und alles wirkt kleiner als früher, niedriger. Die Bäume, die Häuser, die Bordsteine, die Gartentore. Als sei die ganze Straße einen Drittelmeter tief in der Erde versunken.
    Aoife bohrt die Spitze ihres Turnschuhs in die Erde an einem Baumstamm. Nichts. Der Boden ist steinhart, wie gebacken.
    Sie sollte sehen, dass sie weiterkommt. Es ist albern, sich hier länger aufzuhalten.
    Die nächste U-Bahn donnert unter der Straße hinweg. Aoife bleibt noch einen Moment stehen und spürt, wie sich das Gerüttel seinen Weg durch ihren Körper bahnt, von den Füßen, über die Unter- und Oberschenkel, dann über die Hüften das Rückgrat hoch. London, ihre alte Stadt, dringt in sie ein und fordert sie zurück.
    Sie berührt einen Birkenstamm, spürt die papierartige Rinde an der Hand. Dann geht sie weiter.
    Das Haus, vor dem sie schließlich stehen bleibt, hat eine grüne Tür. Der erste Schock. Seit sie denken kann, war diese Tür rot. Eine fröhliche Farbe, sagte ihre Mutter immer, ist das schönste Willkommen. Angestrichen hat sie immer ihr Vater, in abgelegten farbbekleckerten Klamotten, die er speziell für solche Arbeiten aufbewahrt. Als sie klein war, wollte sie immer mithelfen und sah ganz genau zu, wie er mit einem fauchenden Schweißbrenner die alte Farbe abflämmte. Anders als ihre Mutter, die sich auch akustisch überall breitmachte, war ihr Vater kein

Weitere Kostenlose Bücher