Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
großer Redner und niemand, mit dem man sich einfach so unterhalten konnte. Trotzdem durfte sie immer mit anfassen, wenn die Farbe in die Farbschale gegeben wurde, und zugucken, wie sie in Zeitlupe in jede Ecke kroch, und vielleicht, aber nur vielleicht, legte er ihr dabei auch kurz die Hand auf die Schulter.
Sie stellt sich ihren Vater vor, wie er über den Gartenweg geht und weiß, dass er nicht zurückkommen wird, aber niemandem ein Sterbenswort gesagt hat. Ihr einzige Frage lautet jetzt: Wo bist du?
Während sie noch auf dem Bürgersteig steht, öffnet sich die neuerdings grüne Haustür mit der schiefen 14. Einen Augenblick lang glaubt Aoife, ihren Vater heraustreten zu sehen, vielleicht um die Milch hereinzuholen – wodurch sich das Missverständnis aufklären und das Problem in Wohlgefallen auflösen würde.
Doch es ist nicht ihr Vater, es ist ihre Mutter, die ihr jetzt in Schlappen und Morgenmantel entgegenkommt und zum Ausdruck ihrer bürgerlichen Wohlanständigkeit sogar die Tür hinter sich zuzieht. Es könnte auch kein anderer sein als ihre Mutter, nur sie hat diesen irregulären Schlaf-Wach-Rhyth mus, eine Folge ihres Tablettenkonsums. Sie ist älter ge worden. Nein, nicht nur älter, auch gebrechlicher. Angstvoll tasten ihre Hände nach dem Deckel der Mülltonne. Ihr dunkelbraun gefärbtes Haar ist teilweise ausgewachsen. Kann es sein, dass Aoife nur drei Jahre weg war?
»Mum«, sagt sie.
Erschrocken fährt Gretta herum, Furcht liegt auf ihrem Gesicht. Etwas zusammenhanglos sagt sie: »Was ist?«
»Mum«, sagt Aoife erneut. »Ich bin’s.«
»Aoife?«
Einmal mehr fällt Aoife auf, dass ihre Mutter als Einzige ihren Vornamen richtig ausspricht. Selbst in all den Jahren ist ihr der Dialekt ihrer Heimatstadt Galway geblieben, und so schwebt der Anfangsvokal unentschieden zwischen I und Ä und der Konsonant irgendwo zwischen F und W. Alles in allem ist ihr Name eine Mischung aus »Ava«, »Eva« und »Eve« – ohne sich je genauer festlegen zu wollen. Und nur Gretta kann so etwas in seiner ganzen Bandbreite artikulieren.
»Ja«, sagt Aoife und lässt den Seesack fallen.
Da steht eine Frau im Vorgarten. Sie spricht mit einer Stimme zu Gretta, die Gretta bekannt vorkommt. Sie hat ein Tuch um den Kopf gebunden, und neben ihr steht eine große Reisetasche.
»Du lieber Gott«, sagt Gretta, wobei ihr beinahe der Müll aus der Hand fällt. »Bist du das?«
Selbst zu dieser frühen Stunde ballt sich in der Luft bereits die Hitze zusammen. Gretta tastet sich ihren Weg durch die verdickte Atmosphäre und kann endlich ihre Tochter in die Arme schließen. Es ist auch kein Traum, es ist ihr drittes Kind, der unerwartete Nachzügler, ihr Liebling, ihre ständige Sorge. Mit einem Mal ist nicht nur die räumliche Entfernung aufgehoben, sondern auch alles andere, das sie je getrennt hat. Das ist ihre Aoife, und sie ist da. Was sie dabei am meisten überrascht: wie groß das Kind geworden ist. Dabei hat sie doch immer prophezeit, dass Aoife nicht größer wird als sie selbst, zierlich eben, ein kleines Persönchen. Doch jetzt sieht sie, dass Aoife mindestens zehn Zentimeter größer ist als sie. Wie ist das geschehen?
»Was machst du hier?«, sagt sie gleichwohl, und es klingt wie eine Zurechtweisung, sie kann eben nicht aus ihrer Haut. »Ich wollte dich anrufen, aber drüben seid ihr ja fünf Stunden weiter, deshalb wollte ich …«
»Fünf Stunden zurück.«
»Was?«
»Fünf Stunden zurück. New York ist fünf Stunden zurück, Mum.«
»Na, ist ja auch egal. Ich wollte dir nur sagen, dass du nicht zu kommen brauchst. Ich will dich mit dieser Sache nicht belasten. Michael Francis sagte zwar, dass du kommen willst, aber ich hab zu ihm gemeint: Michael Francis, erspare deiner Schwester doch den ganzen Ärger. Sie hat genug mit ihrem eigenen Leben zu tun, da will sie nicht auch noch …«
»Aber natürlich wollte ich kommen.« Aoife tätschelt ihre Schulter. »Und jetzt bin ich da.«
Ihre Tochter sieht sie an, und Gretta schämt sich. Allein wie sie aussieht, hier draußen im Vorgarten um diese Uhrzeit. Sie streicht sich die Haare glatt und anschließend die Wangen. »Ja, da bist du«, sagt sie und bricht in Tränen aus.
Als Erstes bemerkt Michael Francis, dass der beängstigende Vorfall, in dem ein Lehrerkollege und ein Fahrrad vorkommen, ein Traum gewesen ist. Dann stellt er fest, dass er in einem extrem engen Bett liegt. Erst dann, ganz am Schluss, hört er auch die Stimme seiner Schwester Aoife.
Er
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