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Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Titel: Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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wälzt sich auf den Rücken. (Also dieses Bett ist wirklich nichts für einen Eins-achtzig-Mann!) Dann starrt er an die Decke, die er auswendig kennt. Dieses schräge Ding da im Winkel zwischen Wand und Decke, wie heißt das noch mal? Deckenkehlung, oder? Es hat drei gewellte Abstufungen. Als kleiner Junge hat er sich immer vorgestellt, wie es wäre, wenn man das Zimmer einfach auf den Kopf stellt, sodass er auf der weißen Fläche spazieren gehen, die Deckenlampe anfassen und mit dem nackten Fuß an dieser Kehlung entlangfahren könnte. Heißt es wirklich Kehlung? Monicas Mann könnte es garantiert genauer sagen, er ist so ein Mäusemelker. Worüber hat er sich beim letzten Mal ausgelassen? Es gäbe da ein Wort für die Lücke zwischen den Zähnen eines Kamms. Michael Francis hat es natürlich längst wieder vergessen, aber damals hätte er am liebsten gesagt: Wen kümmert’s? Wer braucht so ein Wort?
    Abgesehen davon geht er schon einmal den bevorstehenden Tag durch. Die anstehenden Aufgaben laufen vor ihm ab wie auf einem Karussell, endlos.
    Achtzehn Jahre lang war dies sein Zimmer gewesen, eine winzige Kammer zwischen dem Elternschlafzimmer und dem Raum, der nach hinten hinausgeht und den sich Monica und Aoife teilten.
    Jetzt ist sein Vater verschwunden.
    Am Abend zuvor hat er sich mit Claire gestritten. Eine jener Streitigkeiten, in deren Verlauf man plötzlich an einer jähen Klippe steht – und fast schon das Rauschen der Brandung in der Tiefe hören kann.
    Zumindest muss er heute nicht zur Arbeit. Nicht heute, nicht morgen, ganze sechs Wochen lang nicht. Der Sommer verschafft ihm eine Auszeit von seinem verhassten Job. Einen Job, den er nur hat, weil er das Geld brauchte, ein Job, den er immer nur als Provisorium ansah und für den seine Frau nur Verachtung übrighat, obwohl er es ist, der das Opfer bringt.
    Und jetzt ist Aoife da, nach drei Jahren Abwesenheit.
    Ihrem Tonfall nach hat sie offenbar eine Menge Fragen. Angestrengt verfolgt er, was unten gesprochen wird.
    »Und was hat er gesagt?«
    »Und ihr habt nie wieder darüber gesprochen?«
    »Habt ihr schon bei den Krankenhäusern nachgefragt?«
    »Hast du ihn gefragt, oder hast du ihn nicht gefragt?«
    »Gibt es denn gar keine Hinweise?«
    »Wen könnten wir denn sonst noch ansprechen?«
    »Ist das alles, was dir dazu einfällt?«
    Komischerweise kann er aber Grettas Antworten nicht hören, dabei hatte sie immer eine Stimme, die von einer Nachbarin einmal dezent als »weithin vernehmlich« bezeichnet wurde. Eine Stimme, die ihm von klein auf das Leben versaut hat, wie er leider sagen muss. Zum Beispiel die Sache beim Sportfest, da war er sechs oder sieben Jahre alt. Es war beim Sackhüpfen und er, Michael Francis, lag ganz vorn, da musste Gretta unbedingt allen Leuten mitteilen, dass er noch ins Bett machte. Man brauchte kein Genie zu sein, um zu erkennen, warum Michael Francis an diesem Tag das Rennen verlor. Oder bei seiner Hochzeit. Vorn legten sie gerade das Ehegelöbnis ab, und hinten vertraute Gretta einer Tante von Claire an, sie wundere sich überhaupt nicht, dass der Junge so früh heiratete, schließlich habe er »schon mit zwölf an sich rumgemacht«, und das sei nun wirklich frühreif, oder?
    Claire suchte zwar zu vermitteln, er solle sich nicht so anstellen, aber Tatsache war nun einmal, dass seine Mutter ihn immer bloßgestellt, immer für Spott gesorgt hatte. An Elternabenden, auf Schulausflügen, Straßenfesten oder nach der Messe fragte er sich daher, warum er nicht auch so eine Mutter haben konnte wie die anderen Kinder. Schlank, modebewusst und überwiegend leise. Warum musste ausgerechnet seine Mutter so dick sein, so peinlich angezogen, so laut, so ungebremst mit ihrer wüsten Frisur und dem Wunsch, allen ihre Lebensgeschichte aufzutischen? Schon beim Anblick ihrer geblümten Sackkleider, Ergebnis abendlicher Tätigkeit an der Nähmaschine, wäre er am liebsten im Boden versunken. Nicht zu reden von ihren Sandalen, in denen die Füße so wenig Platz hatten, dass sie zwischen den Riemen hervorquollen. Oder ihre Art, wildfremden Leuten ein Sandwich, ersatzweise auch eine Blätterteigrolle oder ein Stück Rosinenkuchen aus ihrer Tupperdose anzubieten. Solche Situationen hatten für ihn geradezu körperliche Auswirkungen, waren spürbar als Gesichtsröte, Schädeldruck und Schwächegefühl in den Gliedern. Es ging so weit, dass er sich in Bus und Bahn oder bei öffentlichen Veranstaltungen möglichst weit wegsetzte, damit niemand auf

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