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Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Titel: Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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ihre Mutter war am Morgen schon bei einem Bestatter gewesen – weil sie in ihrem Hals ein Knötchen entdeckt hatte, angeblich. Egal, für ihre Mutter stand fest, dass sie bald sterben müsse, das spüre sie ganz genau, und sie wolle nun mal eine »würdige Feier« und einen »seriösen Bestatter« und das beizeiten, wenn noch genügend Mittagstermine frei seien, damit Spielraum blieb für die Totenmesse vor der Grablegung und die traditionelle irische Totenwache danach. Es sei das Letzte, was sie noch für sie tun könne. Aoife bat, den Knoten einmal sehen zu dürfen und untersuchte die fragliche Stelle (nahe des Schlüsselbeins) und fand einen Insektenstich, weiter nichts. Schon eigenartig, denkt Aoife, wie sie bei der ersten echten Katastrophe zu keinerlei Gegenwehr mehr in der Lage ist und sogar auf ihr geliebtes Melodram verzichtet.
    Michael Francis fällt auf, dass sie dasselbe schon einmal zu ihm gesagt hat, gestern nämlich und zwar wörtlich: Mysteriös … eines schönen Morgens … Hirn zermartern. Und jedes Mal klingt es so, als spräche sie diese Worte zum ersten Mal. Wie jetzt wieder: »Nie im Leben hätte ich ihm das zugetraut.« Entweder sie ist eine gute Schauspielerin oder extrem vergesslich. Oder aber sie besitzt ein selektives Gedächtnis. Den Wortlaut behält sie, vergisst aber, dass es sich dabei um eine Wiederholung handelt. Wenn sie jetzt noch sagt, dass er im Ruhestand richtig aufgelebt sei, schmeißt er irgendetwas an die Wand.
    »Dabei …«, sagt Gretta, setzt die Tasse ab und schaut Aoife in die Augen. »Dabei ist er, seit er in Rente ist, richtig aufgelebt.«
    Aoife weiß nicht genau, was sie mit dieser Information anfangen soll, sie war ja weg, seine Pensionierung hat sie gar nicht mitgekriegt, trotzdem öffnet sie den Mund in der Hoffnung, dass ihr das Passende schon einfallen wird. Michael Francis, der neben ihr sitzt, rückt den Stuhl zurück und geht hinaus.
    »Wo gehst du hin?«, ruft ihm Gretta hinterher.
    »Pinkeln.«
    »So etwas sagt man nicht«, beschwert sich Gretta. »Das muss nicht die ganze Welt wissen.«
    »Du hast gefragt.«
    Gretta ist hörbar angewidert und wedelt mit der Hand, als rieche es in der Küche. »Ach, ihr zwei!«
    »Ihr zwei was?«
    »Es ist doch immer dasselbe mit euch.«
    »Was ist denn immer dasselbe?«
    »Ihr steckt immer unter einer Decke, egal wie unrecht ihr habt.«
    »Na und? Er geht pinkeln, das wird er doch noch dürfen.«
    Gretta schüttelt den Kopf, als sei diese Auseinandersetzung unter ihrer Würde. »Trotzdem, ihr steckt immer unter einer Decke«, sagt sie zu der Luft.
    »Was ist denn daran schlimm?«, erwidert Aoife.
    »Was soll das denn wieder heißen?«
    Michael Francis blickt in den kleinen Spiegel mit Kunststoffrahmen über der Toilette, in dem sein Gesicht nur aus schnittweise zu sehen ist. Hier, an dieser Stelle, in diesem Besenschrank von Toilette, steht sein Vater jeden Morgen und rasiert sich. Er füllt seine Rasierschale in der Küche und trägt sie hierhin, aufs Klo unter der Treppe. »So habe ich wenigstens meine Ruhe«, sagte er, als Michael ihn fragte, warum er nicht das Badezimmer benutzt. Auch sein Rasierzeug ist noch da: die Klinge, der Rasierpinsel aus Dachshaar, der Seifentiegel und der kreisrunde bräunliche Abdruck, den die Rasierschale auf dem Wasserkasten hinterlassen hat.
    Er starrt auf diesen Abdruck. Seltsam. Wie der passgenaue Geist von etwas, das nicht mehr da ist. Hat sich sein Vater am Morgen seines Weggangs rasiert oder nicht? Er berührt den Rasierpinsel mit dem Finger. Ist dieses Ding noch benutzt worden oder ging sein Vater mit einem Stoppelbart aus dem Haus?
    Nebenan wogt die Schlacht zwischen Mutter und Schwester. Sie schenken sich nichts.
    Bestimmt hat sein Vater ihm das Rasieren beigebracht, die ses allmorgendliche Ritual. Es muss so gewesen sein, auch wenn Michael Francis sich nicht mehr erinnert. Aber wenn es so war, dann war es im Badezimmer. Ins Miniklo im Erdgeschoss passen keine zwei Leute hinein. Stand sein Vater hinter ihm, als er zum ersten Mal einen Rasierer in die Hand nahm? Hat er ihm gezeigt, wie man ihn zunächst ins Wasser tauchen, die Haut straffen muss? Waren sie gemeinsam im Spiegel zu sehen, als die Klinge erstmals über die Haut schabte? Schon mit vierzehn war er größer als sein Vater, und in einem unvorsichtigen Moment sagte sein Vater einmal, er käme eben nach seinem Onkel. Der ominöse Onkel, der in den Unruhen ums Leben gekommen war. Sie kamen übrigens später nie wieder auf

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