Der Sommer, als ich schön wurde
Er war noch größer als letzten Sommer, auch wenn man das kaum für möglich gehalten hätte. Die Haare, so dunkel wie eh und je, trug er jetzt um die Ohren herum kurz geschnitten. Jeremiahs dagegen waren länger geworden, ein bisschen verstrubbelt sah er aus, aber gut – wie ein Tennisspieler in den Siebzigern. Als er noch jünger war, hatte er lockige, hellblonde Haare, die im Sommer fast silbrig wurden. Jeremiah hasste seine Locken. Eine Zeit lang hatte Conrad es geschafft, Jeremiah einzureden, dass man von Brotkanten Locken bekam, und Jeremiah hatte ab sofort die Kanten von seinen Sandwiches liegen lassen, über die sich dann Conrad hermachte. Aber als Jeremiah älter wurde, wurden seine Haare von selbst eher wellig. Ich vermisste seine Locken. Susannah nannte ihn ihren kleinen Engel, und so sah er auch aus, mit seinen rosigen Wangen und blonden Locken. Die rosigen Backen hatte er immer noch.
Jeremiah formte ein Megafon mit den Händen und brüllte: »Steve-o!«
Ich blieb im Auto sitzen und sah Steven nach, wie er gemächlich zum Haus schlenderte und die beiden nach Jungenart umarmte. Die Luft roch feucht und salzig, so als könnte es jeden Moment Meerwasser regnen. Ich tat so, als müsste ich mir erst meine Turnschuhe zubinden, aber in Wirklichkeit brauchte ich einfach einen Moment, um ganz für mich einen Blick auf die Jungs und das Haus zu werfen.
Das Haus war groß und teils grau, teils weiß, und es sah eigentlich so aus wie die anderen Häuser in dieser Straße auch, nur besser. Es sah genau so aus, wie meiner Meinung nach ein Strandhaus auszusehen hatte. Ein richtiges Zuhause.
Inzwischen war auch meine Mom ausgestiegen. »Hey, Jungs – wo steckt eure Mutter?«, rief sie.
»Hey, Laurel. Sie hält gerade ein Nickerchen«, rief Jeremiah zurück. Normalerweise kam Susannah uns schon entgegengelaufen, kaum dass wir vorfuhren.
Mit drei Schritten war meine Mutter bei Conrad und Jeremiah und drückte beide fest an sich. Ihre Umarmungen waren so kräftig wie ihr Handschlag. Dann schob sie sich die Sonnenbrille auf den Kopf und verschwand im Haus.
Ich stieg aus und hängte mir die Tasche über die Schulter. Erst merkten die Jungs gar nicht, dass ich auf sie zukam. Aber als sie mich dann bemerkten, dann richtig. Conrad musterte mich schnell – so wie die Jungen im Einkaufszentrum es machen. In meinem ganzen Leben hatte er mich noch nie auf diese Art angesehen, kein einziges Mal. Ich spürte, wie ich wieder rot wurde, so wie zuvor im Auto. Jeremiah hingegen sah zweimal hin. So wie er mich anschaute, konnte man meinen, er erkannte mich gar nicht. All das passierte im Lauf von gerade mal drei Sekunden, aber es fühlte sich viel, viel länger an.
Conrad umarmte mich als Erster, aber mit sehr viel Abstand, um mir bloß nicht zu nahe zu kommen. Seine Haare waren frisch geschnitten, und die Haut in seinem Nacken sah rosig und neu aus, wie die eines Babys. Er roch nach Meer. Nach Conrad. »Mit Brille hast du mir besser gefallen«, sagte er, den Mund dicht an meinem Ohr.
Das saß. Ich schob ihn weg. »Tja, Pech. Ich bleib trotzdem bei Kontaktlinsen.«
Er lächelte mich an, und dieses Lächeln ging mir direkt ins Herz. Jedes Mal schaffte er das.
Dann packte mich Jeremiah und hob mich fast in die Luft. »Belly Button ist ja richtig groß geworden«, krähte er.
Ich lachte. »Lass mich runter, du stinkst nach Schweiß.«
Jeremiah lachte laut. »Ganz die alte Belly«, sagte er, doch dabei starrte er mich an, als wäre er sich da nicht so sicher. Dann legte er den Kopf schief und sagte: »Irgendwie siehst du anders aus, Belly.«
Ich wappnete mich innerlich für die Pointe, die sicher gleich kommen würde. »Logo, das machen die Kontaktlinsen.« Ich selbst hatte mich auch noch nicht ganz daran gewöhnt, keine Brille mehr zu tragen. Taylor, meine beste Freundin, hatte seit der sechsten Klasse auf mich eingeredet, ich solle mir Linsen machen lassen, und jetzt hatte ich endlich auf sie gehört.
Jeremiah lächelte. »Das ist es nicht. Du siehst einfach anders aus.«
Ich ging zum Auto zurück, und die Jungs kamen hinterher. Zusammen luden wir schnell das Auto aus, und sobald wir fertig waren, nahm ich meinen Koffer und meinen Rucksack und ging geradewegs in mein altes Zimmer. Es war mal Susannahs gewesen, früher, als sie noch ein Kind war. Es war weiß möbliert und hatte eine verblichene Stofftapete. Und es gab darin eine Spieldose, die ich liebte. Wenn man sie öffnete, sah man eine herumwirbelnde Tänzerin, die
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