Der Sommer, als ich schön wurde
uns trockene Sachen angezogen hatten, kam Susannah von ihrem Nickerchen nach unten und entschuldigte sich, dass sie den großen Moment unserer Ankunft verpasst hatte. Sie sah noch ganz verschlafen aus, und auf der einen Kopfseite war ihr Haar wie zarter Flaum, wie bei einem kleinen Kind. Als Erstes umarmten sich die beiden Mütter, lang und fest. Meine Mutter war so glücklich, Susannah zu sehen, dass sie feuchte Augen bekam, und das passierte bei ihr sonst nie.
Dann war ich an der Reihe. Susannah drückte mich an sich in einer dieser langen, festen Umarmungen, bei denen man sich immer fragt, wie lange sie wohl dauern und wer sich als Erster löst.
»Wie dünn du bist«, sagte ich, teils, weil es stimmte, teils, weil ich wusste, wie gern sie das hörte. Sie hielt ständig Diät, achtete immer genau darauf, was sie aß. Ich fand, sie war genau richtig.
»Danke, Herzchen«, sagte Susannah und ließ mich endlich los, um mich auf Armeslänge zu betrachten. Dann schüttelte sie den Kopf. »Du bist ja richtig erwachsen geworden – wann ist das denn passiert? Wann hast du dich in diese phänomenale junge Frau verwandelt?«
Ich lächelte verlegen. Bloß gut, dass die Jungen oben waren und Susannahs Bemerkung nicht gehört hatten! »Ich seh eigentlich mehr oder weniger wie immer aus.«
»Du warst immer schon ein tolles Mädchen, aber sieh dich doch an, Schätzchen.« Sie schüttelte den Kopf, als stünde sie staunend vor mir. »So hübsch bist du geworden! Bildhübsch. Ein ganz, ganz wunderbarer Sommer wird das für dich.« Susannah machte ständig solche Aussagen, an denen kein Zweifel erlaubt schien – wie Verkündigungen klangen sie, so als würden sie allein deshalb wahr werden, weil Susannah sie ausgesprochen hatte.
Aber Susannah behielt recht. Es wurde ein Sommer, den ich nie, nie vergessen sollte. Es war der Sommer, in dem alles begann. Der Sommer, in dem ich schön wurde. Weil ich mich zum ersten Mal so fühlte. Sommer für Sommer hatte ich bis dahin gehofft, die Dinge würden anders werden. Das Leben würde anders werden. Und in diesem Sommer war es endlich so weit. Das Leben war anders. Ich war anders.
5
Am ersten Abend gab es immer dasselbe: einen großen Topf mit gut gewürzter Bouillabaisse, die Susannah gekocht hatte, während sie auf uns wartete. Mit Garnelen und Krabbenbeinen und Tintenfisch – Susannah wusste, wie sehr ich Tintenfisch liebe. Schon als kleines Mädchen hatte ich mir immer den Tintenfisch herausgepickt und bis zuletzt aufgespart. Susannah stellte den Topf mitten auf den Tisch, dazu gab es ein paar knusprige Baguettes aus der nahen Bäckerei. Jeder bekam eine Schüssel, und wir bedienten uns während des Abends immer wieder selbst mit der großen Suppenkelle. Susannah und meine Mutter tranken normalerweise Rotwein dazu, wir Kinder Fanta Traube, aber an diesem speziellen Abend hatte jeder ein Weinglas vor sich stehen.
»Ich glaube, wir sind alle alt genug für ein Gläschen, meinst du nicht auch, Laur?«, fragte Susannah, als wir uns an den Tisch setzten.
»Ich weiß ja nicht«, begann meine Mutter, doch dann überlegte sie es sich noch mal. »Na gut. Schön. Ich bin wohl ziemlich spießig, stimmt’s, Beck?«
Susannah lachte, während sie die Flasche entkorkte. »Du? Nicht doch!«, sagte sie und goss jedem von uns ein wenig Wein ein. »Es ist ein besonderer Abend. Der erste Sommerabend.«
Conrad leerte sein Glas mit zwei Schlucken. Er trank, als wäre er daran gewöhnt. Im Laufe eines Jahres kann offensichtlich eine Menge passieren. »Heute ist nicht der erste Sommerabend, Mom«, widersprach er.
»Oh doch. Sommer ist erst, wenn unsere Freunde hier sind, nicht eher.« Susannah langte über den Tisch und berührte meine Hand und auch Conrads.
Er zog seinen Arm schnell weg, fast wie zufällig. Susannah schien nichts zu bemerken, ich schon. Ich bekam immer alles mit, was Conrad tat.
Jeremiah musste es auch bemerkt haben, denn er wechselte schnell das Thema. »Belly, willst du mal meine neueste Narbe sehen?«, fragte er und zog sein T-Shirt hoch. »An dem Abend hab ich drei Tore gemacht.« Jeremiah spielte Football, und er war stolz auf jede der Narben aus seinen Schlachten.
Ich beugte mich zu ihm hinüber, um gut sehen zu können. Eine lange Narbe, die gerade erst langsam blasser wurde, zog sich unterhalb des Magens einmal quer über Jeremiahs Bauch. Jeremiah hatte unübersehbar trainiert. Sein Bauch war flach und hart, so hatte er letzten Sommer noch nicht ausgesehen. Jeremiah
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