Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
miteinander umgehen.«
»Muss ich wirklich zum Opa?«
»Was sollen wir denn sonst machen?«
»Was, wenn er mich nicht will?«
»Wir werden sehen«, meinte sie und ließ den Motor an.
Nach zehn Minuten hielten wir an einer Raststätte, um etwas zu essen und zu trinken. Wir bestellten Ravioli und aßen sie schweigend.
»Ich habe dir noch gar nicht erzählt, warum ich deinen Großvater nie mehr gesehen habe«, sagte meine Mutter schließlich.
»Das ist nicht so wichtig.«
»Möchtest du das denn nicht wissen?«
»Fällt es dir leicht, darüber zu reden?«
»Wie meinst du das?«
Ich dachte nach, konnte es ihr aber nicht richtig erklären. »Keine Ahnung«, sagte ich. »Tu, was du nicht lassen kannst.«
»Wieso bist du so?«
»Wie bin ich denn?«, fragte ich und wischte mir Raviolireste aus den Mundwinkeln.
»Du traust mir nicht mehr. Glaubst du, ich belüge dich?«
»Mama, ich versteh dich einfach nicht.«
»Manchmal fühle ich mich inadäquat.«
»War der Opa inadäquat?«
»Schon wieder!«
»Was denn?«
»Diese Bemerkung! Wieso sagst du inadäquat ? Mit zwölf sagt man das nicht.«
»Na ja … du hast es doch auch gesagt.«
»Ach, vergiss es!«
Achselzuckend fuhr ich mit der Hand über den Tisch und fegte die Brot- und Käsekrümel zu einer kleinen Pyramide zusammen. »Was passiert gerade mit Papà?«
»Er wird untersucht.«
»Tun die Untersuchungen weh?«
»Ich glaube nicht.«
Für mich waren Schmerzen das Schlimmste überhaupt. Das Wort Tod war bislang nie gefallen.
»Können wir nicht ins Hotel gehen?«
»Zwei Monate lang? Wovon soll ich das denn bezahlen?«
»Wir könnten uns eine Wohnung mieten.«
»Mal sehen.«
»Wenn mich der Opa dabehält, bleibe ich dann zwei Monate bei ihm?«
»Ich kann dich auch nach Capo Galilea zurückbringen, zu den anderen Großeltern. Wenn dir das lieber ist, mache ich das. Wir können sofort losfahren, ich brauche nur zu wenden. Aber dann sehen wir uns bis September nicht mehr.«
»Aber wenn mich der Opa behält, sehen wir uns dann?«
»Natürlich.«
»Und Papà kann ich auch sehen?«
»Das weiß ich noch nicht, das muss ich erst fragen.«
»Fragst du?«
»Ja, ich werde mich erkundigen«, versprach sie mir und sagte dann: »Also, was ist?«
»Gut, fahren wir weiter!«, erwiderte ich.
Colle Ferro besteht aus ein paar vereinzelten Häusern am Ende eines Tals, deren Einwohner eines Tages überrascht feststellten, dass sie durch zwei Straßen und eine Pfarrei miteinander verbunden waren. Nachdem die Bevölkerungszahl kurzfristig anstieg, weil ein Staudamm und ein künstlicher Stausee gebaut worden waren, fiel sie wieder, bis nur noch eine Handvoll alter Leute übrig blieb, die aus Bequemlichkeit oder aus Mangel an Alternativen nicht zu ihren Kindern in die Stadt, an die Küste oder in einen größeren Ort gezogen waren. Es gab eine Kirche, drei Geschäfte, eine Post, einen Markt – donnerstagmorgens, auf dem Parkplatz – und eine Bar-Trattoria, in der man die Wahl zwischen pasta al ragù und trofie al pesto hatte.
Mein Großvater war hierhergezogen, nachdem meine Mutter nach Sizilien gegangen war. Zwischen 1943 und 1945 hatte er schon einmal an diesem Ort gelebt.
Seine Familie und er hatten sich auf der Flucht vor den Nazis hier versteckt. Mein Großvater war nämlich Jude wie seine gesamte Familie, nicht aber meine Mutter: Mein Großvater hatte eine Goi geheiratet, wie die Juden sagen, eine Nichtjüdin, denn Jude ist nur, wer eine jüdische Mutter hat.
»Deine Urgroßmutter liegt hier begraben.«
»Echt?«
Wir kamen an einem kleinen Gemüsegarten vorbei, in dem es nicht nur Pflanzen, sondern auch eine Werbetafel gab. Genau unter dieser Tafel jäteten ein paar Frauen mit Strohhut Unkraut. Wir hielten, um zu tanken, und meine Mutter nutzte die Gelegenheit, sich beim Tankwart nach meinem Großvater zu erkundigen. Aber der kannte ihn nicht. Der Chef sei nicht da, vielleicht wisse der mehr. »Wenn Sie kurz warten wollen? Er müsste jeden Moment zurück sein.«
»Nein, danke. Wir fragen später noch mal.«
Wir kamen an zwei Grotten vorbei, die mir im grellen Tageslicht düster erschienen. Ich erkundigte mich bei meiner Mutter danach, aber die konnte mir auch nichts dazu sagen. Nachdem wir das weiße Ortsschild mit der Aufschrift »Colle Ferro« passiert hatten, hielten wir vor der Bar-Trattoria, wo uns vier Personen gleichzeitig erklärten, wie man zu meinem Großvater kommt. Meine Mutter war zwar schon einmal hier gewesen, allerdings vor
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