Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
nicht mehr mit dem Namen Coifmann, sondern als Monsieur Maillard vor. Der Besitzer macht mit ihm einen neuen Arbeitsvertrag. Unsere Mutter verbietet uns, allein draußen zu spielen, den Innenhof zu verlassen. Unser Horizont besteht aus einer niedrigen, von Sträuchern umgebenen grauen Steinmauer. Sind wir aus irgendeinem Grund gezwungen, das Haus zu verlassen, tun wir das ausschließlich in Begleitung von Audrine oder Madame Fleur.
Gabriele verbringt viel Zeit allein: Er liest, lernt rechnen. Ich übe mich darin zu verschwinden, weil ich begriffen habe, dass das das Wichtigste ist: nicht auffallen, unauffindbar bleiben, sich unsichtbar machen. So tun, als gäbe es mich gar nicht. Mit geschlossenen Beinen lehne ich mich so lange an die Wand, bis ich die Farbe der Tapete annehme. Unsere Mutter geht an mir vorbei, ohne mich zu sehen. Ich lege mich unters Bett, lasse meinen Körper auf die Fliesen sinken. Die Haut zerfällt zu Staub. Eine Katze kommt zum Fenster herein, kriecht unters Bett und rollt sich auf meinem Bauch zusammen, ohne mich zu bemerken.
In diesem Haus bleiben wir ein weiteres Jahr, vielleicht auch ein bisschen länger.
Eines Tages – ich habe gerade Geburtstag – dürfen Gabriele und ich eine Runde reiten. Auf dem Pferd eines Bauern, der bei uns in der Nähe wohnt, unweit der Schleuse. Er ist ein Freund. Anschließend schenkt er uns Ziegenkäse, Eier und ein Glas Pfirsichkompott.
Am darauffolgenden Nachmittag betritt unsere Mutter das Zimmer und sagt, Audrine habe ein Geschenk.
»Für wen?«, frage ich.
»Für dich«, sagt unsere Mutter.
»Für mich und Gabriele«, sage ich.
»Nein, nur für dich«, sagt sie
Erschrocken reiße ich die Augen auf. Noch nie habe ich ein Geschenk bekommen, das ausschließlich für mich bestimmt ist. Ich erbe die Geschenke meines Bruders, wenn er keine Verwendung mehr dafür hat: Spiele, Kleider, Bücher. Wenn wir etwas geschenkt bekommen, erfreuen wir uns beide daran, so wie beim Reiten. Dass ich ein Geschenk ganz für mich allein behalten darf, ist beängstigend – und gleichzeitig wunderbar. Ich bin ganz aus dem Häuschen vor Aufregung, nehme jede noch so kleine Veränderung an Licht und Schatten wahr. Ich bin eine Eule zwischen den Zweigen einer Eiche. Ich habe Angst. Ich bin nicht berechtigt, etwas zu besitzen. Wer besitzt, existiert. Wer mir etwas schenkt, verrät mich.
»Audrine ist da, wir müssen gehen«, sagt unsere Mutter.
Ich ziehe den Mantel an, mache meine Schnürsenkel zu. Gabriele kommt nicht mit, er bleibt bei Madame Fleur und ihrer Enkelin. Ich stelle mir vor, wie ich mit dem Geschenk zurückkomme, wie unsere Blicke sich treffen. Er wird wissen wollen, was in dem Paket ist. Ich werde sagen, dass er es auspacken kann, wenn er will. Wir laufen durch die Stadt in Richtung Zentrum. Ich sehe den Glockenturm der Kathedrale, der die Hausdächer überragt. Ich sehe den Rauch, der aus den Kaminen steigt. Es ist kalt, draußen riecht es gut. Wir betreten ein fünf- oder sechsstöckiges Gebäude. Ich habe noch nie ein so hohes Gebäude gesehen. Wir nehmen den Lift. Für mich ist es das erste Mal. Holz und Glas. Während wir nach oben fahren, sehe ich die Treppe. Es ist sehr laut. Wir betreten eine Wohnung im dritten Stock. Dort riecht es streng und stechend nach Medizin. Man befiehlt mir, auf einem Stuhl Platz zu nehmen, und ich setze mich. Eine Hand liegt in meinem Schoß, die andere umklammert die meiner Mutter. Meine Mutter hält meine Hand, als würden wir eine Straße überqueren oder an einem knurrenden Hund vorbeikommen, und das macht mich misstrauisch. Aber die Vorfreude auf das Geschenk lenkt mich ab, und so nehme ich den Mann kaum wahr, der im weißen Kittel das Zimmer betritt. Meine Mutter bittet mich mitzugehen. Als der Mann im weißen Kittel sagt, dass ich den Mund aufmachen soll, gehorche ich. Als er die Zange nimmt und sie in meinen Rachen schiebt, wehre ich mich nicht. Zehn Minuten später hat man mir die Mandeln herausgenommen. Ich habe mich vorgebeugt und spucke in einen Napf.
Unsere Mutter liebkost meinen Nacken und sagt: »Tut mir leid, aber wir müssen jetzt gehen. Dein Vater kommt gleich nach Hause.«
*
Unser Vater kommt ins Haus gestürmt, rennt gegen die Tür, die Anrichte, den Tisch. »Wir müssen hier weg, sofort! Los, packen wir unsere Sachen. Nicht alles, nur das Nötigste.«
»Was habe ich denn sonst?«, sagt unsere Mutter. »Doch nur das Nötigste.«
Unser Vater hält Zeige- und Mittelfinger in die Höhe: »Zwei Koffer.
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