Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
befallen, könnten seine die nächsten sein, da die Gärten direkt nebeneinanderliegen. Gabriele hilft unserer Mutter beim Würfeln der Paprika, beim Zerstampfen der Kartoffeln. Im ganzen Haus riecht es nach Zwiebeln.
Unser Vater kehrt mit schmutziger Hose zurück, seine Schuhe sind schlammbespritzt, sein Hemd ist nass geschwitzt.
»Was ist passiert?«, erkundigt sich meine Mutter.
»Ich komme vom Weinberg.«
Unsere Mutter trocknet sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. Sie merkt, dass ihr Finger blutet, steckt ihn in den Mund und saugt daran. »Und wir haben einen Gemüsegarten, falls dir das noch nicht aufgefallen ist. Wir haben unsere Heimat verlassen, damit du in deinem Beruf weiterarbeiten kannst. Wenn du Bauer werden willst, hilf bei uns mit! Du musst aggressiver auftreten. Jetzt sind falsche Skrupel unangebracht. Außerdem bist du zu dünn. Du solltest mehr essen.«
»Ich komme vom Weinberg«, wiederholt mein Vater. »Dort habe ich Arbeit gefunden.«
Unsere Mutter schaut nach dem Lauch im Topf und lacht. »Aber du verstehst doch überhaupt nichts von Wein! Er schmeckt dir nicht mal.«
Unser Vater setzt sich an den Tisch, schenkt sich Wasser aus dem Krug ein und bricht ein Stück Brot ab. Gabriele läuft auf ihn zu und legt ihm das Märchenbuch auf den Schoß. Er schlägt es auf, blättert darin. »Aus chemischer Sicht ist Wein ein Hydro-Alkohol-Gemisch, bestehend aus den in Weintrauben enthaltenen Substanzen Wasser, Fruktose und Tannin sowie aus weiteren aus der Fermentation von Most und Trester entstandenen Produkten.« Er packt Gabriele unter den Achseln und zieht ihn auf seinen Schoß. »Den Rest lerne ich«, sagt er.
*
Wir schreiben das Jahr 1940, und es ist Frühling. Euphorisch verlassen wir Christophes und Audrines Haus und ziehen nach Blanquefort. Wir nehmen uns ein Zimmer in einem einfachen Gasthaus. Das Gasthaus heißt Auberge des deux noms . Es liegt in der Nähe des Bahnhofs, der Weinberge und der Kellerei, deren Wein doch tatsächlich Les deux noms heißt. Natürlich sind wir dort nicht die einzigen Gäste, aber die einzigen Italiener und die einzigen Juden. Madame Fleur, die Besitzerin, ist nett, sie schenkt Gabriele und mir Bonbons. Aber die anderen Gäste sind gemein. Erst nennen sie uns les salauds , Arschlöcher, Mistkerle, Schweine. Im Gegensatz zu den Chrétiens, den Christen. Als unser Land Frankreich verrät und es besetzt, nennen sie uns les traîtres , Verräter.
Zu Madame Fleur sagen sie: Wenn les traîtres nicht verschwinden, sehen wir uns gezwungen, das Hotel zu wechseln.«
»Dann gehen Sie doch!«, erwidert Madame Fleur. »Ich vertreibe niemanden.«
Die Gäste bleiben, weil die Auberge des deux noms das beste Gasthaus der ganzen Gegend ist. Aber wir verlassen das Zimmer immer seltener, essen sitzend auf dem Bett.
Madame Fleur hat blonde, zu einem Zopf geflochtene Haare, rote Wangen und eine kräftige Stimme, die durch das ganze Haus schallt. Sie trägt stets ein blaues Kleid mit einer hellblauen Schürze: Sie besitzt mehrere davon. Wir dürfen ihre Küche jederzeit benutzen, und sie hilft uns, wo sie nur kann. Sie gibt unserem Vater etwas für die Mittagspause mit: hart gekochte Eier und Tomaten. Sie hat eine Enkelin in meinem Alter. Unsere Mutter sieht uns beim Spielen im Gastraum zu, während Gabriele liest oder zeichnet. Um Diskussionen oder Auseinandersetzungen zu vermeiden, nennt Madame Fleur mich Simon. Aber wenn sie mich Simon nennt, reagiere ich nicht.
Am Abend kommt unser Vater fröhlich und gut gelaunt zurück. An der Kellerei Les deux noms scheint der Krieg vorbeigegangen zu sein: Er hat sich mit dem Besitzer angefreundet, der uns sonntags oft zu sich nach Hause einlädt. Abends spielt er mit uns. Mein Lieblingsspiel heißt »Der Baum«: Unser Vater stellt sich starr mitten ins Zimmer und streckt die Arme auf Schulterhöhe seitlich aus. Seine Beine sind die Wurzeln. Ich klettere an ihm hoch, als wäre er eine Eiche. Ich verstecke mich in seinen Zweigen und tue so, als gäbe es mich gar nicht. Ich bin eine Mistel. Eine Orchidee. Eine Pflanze, die andere ausnutzt, ein Parasit.
*
Wir bleiben anderthalb Jahre in der Auberge des deux noms. In den Zeitungen stehen Schauergeschichten. In den Cafés machen Gerüchte die Runde, viele davon handeln von Juden. Bekannte raten uns zu gehen, unseren Namen zu ändern. Mithilfe von Christophe, Audrine und Madame Fleur ziehen wir in ein Haus, das zur Kellerei Les deux noms gehört. Bei der Arbeit stellt sich unser Vater
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