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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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Marcello.«
    Onkel Marcello geht auf mich zu und reicht mir einen Finger. Ich umklammere ihn. »Ich freue mich riesig, dich kennenzulernen«, sagt er.
    Ich verberge mein Gesicht am Hals meiner Mutter. »Morgen könnt ihr zusammen spielen, wenn ihr wollt«, sagt sie, und dann zu ihm: »Bleibst du? Dann lernst du auch Gabriele kennen.«
    Onkel Marcello lächelt und schweigt. Ich werde ins Bett zurückgebracht. Beim Einschlafen verfange ich mich im Widerschein des Mondes auf der Bettdecke. Am nächsten Morgen stehe ich gut gelaunt auf. Ich habe Lust zu spielen, aber der Onkel ist schon weg. Nur die Großmutter ist zu Hause, sonst niemand. Alle kehren spät zurück.
    In der darauffolgenden Nacht weckt uns unsere Mutter ungeduldig.
    »Zieht euch an!«, sagt sie.
    Wir gehen hinaus auf die Straße, mit noch ganz schlafverklebten Augen. Ein Wagen wartet vor der Haustür. Auf dem Kofferraum sitzt Onkel Marcello, eine Zigarette zwischen den Lippen. Gabriele und ich nehmen mit Großmutter auf dem Rücksitz Platz, während unsere Mutter vorne einsteigt. Unser Großvater und Vater kommen vorerst nicht mit.
    Der Wagen verlässt die Stadt, quält sich in Richtung Hinterland und Berge. Von den Serpentinen wird mir übel, ich stehe kurz davor, mich zu übergeben, aber der Onkel meint, wir sollten lieber nicht anhalten. Unsere Mutter kurbelt das Fenster herunter und sagt: »Tief durch die Nase einatmen!«
    *
    Die Ortschaft heißt Colle Ferro. Das Haus liegt weitab der Hauptstraße am Rand eines Eichenwalds. Dahinter beginnt ein Pfad, der quer durchs Unterholz auf den höchsten Berg des ganzen Tals führt. Die Umgebung besteht aus Wäldern und Wiesen, aus durch schadhafte Straßen miteinander verbundenen Häuseransammlungen, aus Kiosken und aus von Farn, Ginster und Brombeersträuchern gesäumten Wegen. Ins Haus gelangt man über eine Holztreppe, die direkt in den ersten Stock führt. Es gibt zwei Zimmer: In einem schlafen wir alle gemeinsam, das andere dient zum Kochen und Essen. Es gibt auch einen Stall, aber ohne Tiere. Das Klo befindet sich zwischen den Bäumen.
    Drei Tage bleiben wir mit Onkel Marcello allein. Von unserem Großvater und Vater hören wir nichts. Onkel Marcello spielt mit uns. Gabriele und ich nennen ihn heimlich »den verrückten Onkel«. Er denkt sich Witze aus, überfällt uns aus dem Hinterhalt. Er zieht uns die Schuhe aus und kitzelt unsere Fußsohlen. Er ahmt Geräusche nach: ein Pferd auf Kopfsteinpflaster, den Laut, den Fische unter Wasser machen, indem er Luftblasen zwischen den Lippen zerplatzen lässt. Er bringt uns die hohe Kunst des Gestikulierens bei. Für Was willst du? legt er die fünf Fingerspitzen zusammen, wobei die Hand nach oben zeigt und geschüttelt wird. Hast du eine Zigarette für mich? sagt man, indem man den gestreckten Zeige- und Mittelfinger geschlossen an die Lippen führt. Für Ich habe Hunger schlägt man sich mit der Handkante auf Magenhöhe gegen die Hüfte. Für Komm her! krümmt man den Zeigefinger, wobei die Hand zum Gerufenen zeigt. Händereiben steht für Zufriedenheit, Respekt drückt man aus, indem man sich mit dem Daumen über die Wange fährt, Wut, indem man sich auf die Fingerknöchel beißt, Müdigkeit, indem man das Gesicht in die geöffnete Hand legt, Gefängnis durch zwei sich berührende Handgelenke.
    Der Onkel hat eine Pistole. Er erzählt Geschichten von Hinterhalten und Messerstechereien. Er spricht von Partisanen. Eines Abends verschwindet er mit dem Auto und kommt am nächsten Morgen mit unserem Großvater und Vater zurück. Er gibt uns falsche Papiere. Aus unserem Vater wird Enrico Carati, aus unserer Mutter Anna Caracciolo, aus unseren Großeltern Caracciolo und Stoppani. Gabriele und ich heißen Carati, nach unserem Vater. Die Vornamen bleiben gleich, damit wir uns nicht versprechen und uns dadurch verraten.
    »Gefällt dir Gabriele Carati?«, fragt unser Onkel Gabriele.
    »Besser als salaud und traître «, erwidert mein Bruder. »Aber er ist eben nicht Coifmann.«
    *
    Ein Bach trennt unser Haus von vier weiteren Gebäuden. Drei davon sind unbewohnt, in einem lebt ein Hirte mit Frau und Töchtern. Die Töchter sind in unserem Alter, sie heißen Iole und Maria. Iole ist das schönste Mädchen, das ich je gesehen habe. Maria hat ein himbeerförmiges Muttermal am Auge. Wir freunden uns an. Mit ihnen weiden wir Schafe, sammeln Holz und verstecken uns zwischen den Farnwedeln. Wenn wir uns nützlich machen, bezahlt uns die Mutter mit Ziegenkäsetalern, mit einem

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