Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
Einen für uns und einen für die Kinder.«
Wir hasten zum Bahnhof. Am Bahnsteig stehen viele Leute, die Italienisch sprechen. Es ist schon lange her, dass ich gehört habe, wie jemand Italienisch spricht. Im Waggon werden wir eng zusammengepfercht. Ich sitze auf dem Schoß meiner Mutter, Gabriele auf dem meines Vaters.
Wir fahren den ganzen Tag. Erst in Richtung der aufgehenden Sonne und dann nach Süden. Als die Sonne untergeht, kehren wir ihr den Rücken zu. Aus dem Fenster sehe ich im Dämmerlicht das Meer. Es liegt neben uns, ich kann es beinahe berühren.
Der Zug bremst abrupt. Koffer fallen aus dem Gepäcknetz, Kinder von den Knien ihrer Eltern. Barsch befiehlt man uns auszusteigen, und zwar schnell! Zu rennen.
»Lasst die Koffer hier!«, heißt es.
Wir laufen zum Strand, gleiten im Sand aus, der in unsere Kleider, in unsere Schuhe eindringt, sich mit unserem Speichel vermischt. Möwen schrecken auf und fliegen kreischend davon. Wir verstecken uns hinter Felsen. Jemand wirft sich ins Wasser. Wir hören ein immer lauter werdendes Dröhnen. Die Bomben fallen auf eine nahe gelegene Stadt, von der wir nur die ersten Häuser hinter dem Hügel erkennen können. Flammen lodern auf. Zwei Flugzeuge drehen ab, sehen den Zug, überfliegen und beschießen ihn. Fensterscheiben zerbersten, Polster platzen auf, Glassplitter zischen durch die Luft. So schnell, wie sie gekommen sind, verschwinden sie auch wieder. Im Davonfliegen erzeugen sie einen Luftwirbel. Die Fische hören auf zu schwimmen, die Vögel hören auf zu fliegen, der Wind verebbt. Nacheinander beginnen wir wieder zu atmen.
»Kommt!«, sagt unser Vater.
Die Sitze sind mit Scherben bedeckt. Wir säubern sie. Die Koffer sind unversehrt. Eine Stunde später setzt sich der Zug wieder in Bewegung. Im ersten Morgengrauen erreichen wir den Bahnhof von Genua. Wir laufen durch die Gassen nach Hause, unterwegs treffen wir die Großeltern, die Gott weiß woher kommen. Großmutter umarmt uns, streicht uns über die Wangen. Sie hat kein Höhrrohr, hört nichts mehr. Beide sind gerührt, haben nicht mehr damit gerechnet, dass wir zurückkommen. Im Haus gibt es keine nennenswerten Vorräte, aber wir feiern mit Früchtetee und Keksen.
»Wie ist die Lage in Frankreich?«, erkundigt sich Großvater.
»Entweder man flieht, oder man verschwindet«, erwidert unser Vater. »Vor zwei Tagen haben sie eine Frau erschossen, die Juden in ihrem Hotel versteckt hat. Sie haben sie auf den Marktplatz gezerrt und abgeknallt. Madame Fleur war eine gute Frau. Sie hat auch uns geholfen.
*
Wir bleiben fünf Wochen bei den Großeltern, hinter verschlossenen Türen. Wir verlassen das Haus nicht, sehen niemanden. Nur mein Großvater und mein Vater wagen sich hinaus, aber auch das nur, wenn es gar nicht anders geht. Die Lebensmittelreserven werden knapp, es gibt kein Fleisch, nur wenig Gemüse, unreifes Obst, und das Brot ist rationiert. Es gibt Mehl, das mit Wasser verknetet wird, Kartoffeln, etwas Hartkäse, Marmelade und den Dosenfisch Großvaters: Mehr haben wir nicht.
Als ich eines Nachts im Bett liege und mich darin übe, die Beschaffenheit von Schatten anzunehmen, höre ich, wie in der Küche geredet wird. Unter den vertrauten Stimmen ist auch eine heisere, freundliche, die ich nicht kenne. Ich schleiche mich aus dem Zimmer und sehe nach, spähe durch den Türspalt. Sie gehört einem Mann mit lockigem Haar und gebräuntem Teint. Sie reden davon wegzugehen, zu fliehen. Sie reden von einem abgelegenen unbewohnten Haus auf dem Land, am Ende eines Tals – genau das Richtige für unsere Bedürfnisse. Sie diskutieren darüber, die Fabrik des Großvaters den Angestellten zu übergeben. Großvater ist einverstanden: »Das sind alles vertrauenswürdige Leute.« Sie reden über Onkel Elio und irgendwelche Cousins, von denen niemand mehr gehört hat. Meine Mutter streckt den Arm über den Tisch, drückt die Hand des Unbekannten. »Ich freue mich so, dich zu sehen!«, sagt sie. »Ich hatte solche Angst.«
»Warum?«, fragt er.
»Weil du unvorsichtig, leichtsinnig bist.
»Von wegen: Vorsicht und Gewissenhaftigkeit sind für mich selbstverständlich. Manchmal bin ich vielleicht ein bisschen unbesonnen, aber das ist kein Widerspruch.« Er dreht sich um und entdeckt mich, bemerkt das Weiß in meinen Augen hinter der Tür. »Und wer ist das?«, fragt er.
»Wieso bist du noch wach?« Unsere Mutter nimmt mich auf den Arm und sagt: »Marcello, das ist Simone. Simone, das ist dein Onkel
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