Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
Marine um chemische Fragen zu kümmern. Das lehnt er ab. Er ist dem Land, das ihn vertrieben hat, nach wie vor treu ergeben und weigert sich, irgendeine militärische Aufgabe zu übernehmen. Deshalb bekommt er Streit mit unserer Mutter. Gabriele und ich hören, wie sie laut diskutieren, während sie die Bohnen umrührt.
»Ich hasse deine alberne Vaterlandstreue«, sagt sie. »Uns geht das Geld aus, und wir können nicht ständig meine Eltern anbetteln. Wir haben zwei Kinder, schon vergessen? An sie musst du denken und an mich, nicht an das Vaterland.«
»Ich habe immer für unser Land gearbeitet«, sagt er.
»Das Land, das dich jetzt nicht mehr arbeiten lässt, das unsere Kinder vom Unterricht ausschließt. Du bist ihm in keiner Weise verpflichtet.«
»Treue ist keine Verpflichtung«, erwidert er. »Sie ist ein Teil von mir, steht über mir, ja steckt in mir. Und darüber solltest du froh sein, weil das auch für dich gilt: Ich werde dir immer treu sein.«
Wir hören, wie ein Glas zu Bruch geht, wie unsere Mutter weint.
Inzwischen bin ich ein Jahr alt. Ich verstehe nicht, was die Leute sagen, nehme aber wahr, welche Gefühle in ihrer Stimme mitschwingen: Freude, Angst, Enttäuschung. Als ich eines Tages merke, wie gequält meine Eltern klingen, löse ich mich das erste Mal in Luft auf. Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat, aber es ist nicht weiter schlimm. Ich liege im Bett und fühle mich auf einmal ganz luftig und leicht. Ich halte die Hände vor die Augen und stelle fest, dass ich hindurchschauen kann: Die Haut ist durchsichtig. Ich rutsche durch das Laken, die Matratze, das Bett. Währenddessen sitzt Gabriele neben mir auf dem Boden und sagt Worte, deren Bedeutung er nicht kennt. Er ist fünf Jahre alt und lernt bereits lesen. Unsere Mutter bringt es ihm bei. Zum Geburtstag hat er ein Bilderbuch bekommen, es hat einen grünen Einband und enthält Märchen. Während unsere Eltern streiten, liest er laut daraus vor, buchstabiert im Dunkeln, und ich klammere mich an seine undeutlichen Worte, um mich nicht noch mehr aufzulösen. Gabrieles Stimme erweckt mich zum Leben. Ich fühle mich wieder stabiler, stofflicher. Und langsam wie ein Toter tauche ich wieder aus meiner Matratze auf.
*
Audrine, Christophes Frau, ist Rotkreuzschwester im Krankenhaus und immer in Grau und Weiß gekleidet. Wenn sie uns besucht, weisen Blusenmanschetten und Rock winzige Blutspritzer auf, die aussehen wie Rostflecken. Sie hat kalte Augen, wenn sie uns ansieht, und kalte Hände, wenn sie uns berührt. Andere Leute streichen Gabriele und mir übers Haar, wenn sie uns begegnen, kneifen uns in die Wangen oder kitzeln uns am Ohrläppchen. Audrine streichelt uns nie, sie spielt nie mit uns. Manchmal nimmt sie einen von uns an die Hand, wenn sie unsere Mutter zum Einkaufen oder zum Arzt begleitet und wir eine Straße überqueren müssen. An uns wendet sie sich nur selten, und wenn, kommen nur leere Sprechblasen aus ihrem Mund. Sie ist das genaue Gegenteil von ihrem Mann Christophe.
Zu unserer Mutter sagt sie: »Dein Mann muss aggressiver auftreten. Jetzt sind falsche Skrupel unangebracht. Außerdem ist er zu dünn. Er sollte mehr essen.«
»Danke für deinen Rat«, sagt unsere Mutter. »Aber ich lasse meinen Enrico nicht verleumden! Ich vertraue ihm voll und ganz.«
Audrine knöpft ihren Mantelkragen zu. »Das ist ein Fehler.«
»Du hast leicht reden!«, sagt meine Mutter. »Christophe und du, ihr lebt nicht in einem fremden Land, dessen Sprache ihr nicht versteht. Ihr seid nicht von der Gunst von Freunden abhängig, und das schon bei Kleinigkeiten wie Strümpfen oder Mehl.«
»Warum bittest du nicht deinen Vater um Hilfe?«
Unsere Mutter nimmt zwei Eier aus einem Korb. Sie schlägt sie an der Tischkante auf, lässt das Eiweiß in ein Glas gleiten und das Eigelb in eine Kuhle aus Mehl. »Genauso gut könnte ich Enrico betrügen«, sagt sie und fährt sich mit dem Handgelenk über die Stirn. »Das kann ich unmöglich machen.«
Auf Christophes Grundstück hat sie Paprika, Kartoffeln und Lauch geerntet. Letzteren gibt es dort im Überfluss. Tagsüber kümmert sie sich um den Gemüsegarten, auch wenn sie so gut wie keine Ahnung davon hat. Wenn man sie darauf anspricht, sagt sie, sie improvisiere, verlasse sich auf ihren Instinkt. Ein Nachbar gibt ihr Ratschläge, einmal im Monat kontrolliert er die Pflanzen auf Krankheiten oder Parasiten. Aber nicht aus reiner Nächstenliebe, obwohl er freundlich ist. Denn werden unsere Pflanzen
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