Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
er ein Vorstellungsgespräch in einer Seifenfabrik. Er stellt sich vor und wird umgehend hinausbegleitet. Sechs Tage später teilt ihm eine Kakao verarbeitende Firma unweit von Alessandria mit, die Stelle, auf die er sich beworben hat, sei bereits vergeben.
»Die Stelle wurde doch erst vor drei Tagen frei!«, sagt mein Vater.
»Tut uns leid«, heißt es nur.
Großvater besitzt eine Fischverarbeitungsfirma. Er hat keine Angst, arbeitslos zu werden, weil ihn niemand entlassen kann. Er hat bereits einige Aufträge verloren, aber seit der Verabschiedung der Rassengesetze schickt er einen Angestellten zu Verhandlungen. Er könnte unseren Vater einstellen, aber beide wissen, dass es dort nichts für ihn zu tun gibt: nichts, bei dem seine Fähigkeiten gefragt wären. Eines Tages tippelt Großmutter hastig durch den Flur und betritt Großvaters Arbeitszimmer, wo sie über den Schirmständer stolpert. Sie ist nass geschwitzt und bringt kein Wort hervor.
»Beruhige dich!«, sagt Großvater. »Wo brennt’s denn?«
Sie legt das Hörrohr an. »Wie bitte?«
»Was ist los?«, schreit Großvater.
»Sie verlassen das Land.«
»Wer?«, schreit Großvater.
Die Großmutter gestikuliert mit der freien Hand. »Alle.«
Zur Wohnung zählt ein Zimmer, das einst Elio gehört hat. In ihm wurde ich geboren, und in ihm schlafen wir gemeinsam, wenn wir bei den Großeltern zu Besuch sind. Elio ist der Bruder unserer Mutter, also unser Onkel. Er lebt mit seiner Familie in Parma. Sie haben auch eine Wohnung in Genua, nur zwei Querstraßen von unseren Großeltern entfernt, sind aber nur selten hier. Unsere Großmutter beschwert sich, dass sie sie so gut wie nie sieht. Es gibt noch einen weiteren Sohn, Marcello. Über ihn wird nicht gesprochen. Er soll ein wenig seltsam sein. Er ist ein leidenschaftlicher Pilot, hat sich aber geweigert, zur Luftwaffe zu gehen. Er kommt nur selten nach Hause, und wenn, streitet er mit unserem Großvater.
Großvater kommt aus dem Flur und öffnet die Tür. Unser Vater kniet auf dem Boden, beugt sich über einen Koffer, den er gerade zumachen will. Unsere Mutter legt sorgfältig eine Flanellhose zusammen, die sie auf dem Bett ausgebreitet hat. Gabriele spielt mit einer Porzellanglocke, die an einer Schnur befestigt ist. Er hält sie mir unter die Nase, und ich versuche, sie zu essen. Großvater runzelt die Stirn und sagt: »Wo wollt ihr hin?«
»Darf ich das Kissen mitnehmen, das Simone benutzt hat?«, fragt meine Mutter.
Der Großvater schweigt und versucht, aus der Situation schlau zu werden.
Unsere Mutter fragt Großmutter, die ihr Hörrohr nach wie vor ans Ohr hält. »Aber natürlich, Liebes! Nimm, was du brauchst.«
»Was soll das heißen, aber natürlich ? Wo willst du hin mit diesem Kissen?«
Unser Vater steckt Ausweise in einen braunen Umschlag und legt ihn neben den Koffer. »Nach Frankreich.«
»Nach Frankreich? Wieso denn nach Frankreich?«, fragt Großvater.
»Ein befreundeter Ingenieur aus der Nähe von Bordeaux hat mir geraten, zu ihm zu kommen. Angeblich gibt es dort Arbeit in Hülle und Fülle. Aber ich soll mich beeilen.«
»Und wo werdet ihr wohnen?«
»Christophe stellt uns ein Haus zur Verfügung.«
»Ein Haus?«
»Es gehört ihm. Ein Haus auf dem Land.«
»Und wer ist dieser Christophe?«
Unser Vater greift nach einem Filz- und einem Leinenhut. »Mein Freund aus der Nähe von Bordeaux.«
*
Christophe ist ein Riese von einem Mann. Er liegt zwischen wildem Fenchel im Gras, die Arme ruhen neben dem Körper: Ich erklimme seinen Bauch. Dabei reiße ich den einen oder anderen Hemdenknopf ab. Unsere Mutter wird wütend, befiehlt mir, damit aufzuhören. Lachend sagt er: »Nein, lass ihn nur, die Welt ist voller Hemden. Und wenn nicht, dann mein Kleiderschrank.« Er lacht, und wenn er lacht, hat er Ähnlichkeit mit einem Flugzeug, er hebt mich hoch und lässt mich fliegen. Ich versuche, mich an seinen Wangen festzuhalten. Christophe und Audrine haben keine Kinder. Christophe ist ein reicher, mächtiger Mann.
Unser Vater bleibt lange auf. Er sitzt am Küchentisch und redet mit Christophe. Er vertraut sich ihm an, lässt Dampf ab. Sie trinken Kirschlikör. Von meinem Bett aus – ein Gitterbett, damit ich nicht herausfallen kann – höre ich sie lachen. Obwohl es spät geworden ist, verlässt er frühmorgens das Haus, um sich eine Arbeit zu suchen. Mit Christophes Hilfe bekommt er ein Vorstellungsgespräch. Man legt ihm nahe, in seinen alten Beruf zurückzukehren: sich bei der
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