Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
trinke. Er stand noch einmal auf, füllte einen Krug mit Leitungswasser, setzte sich wieder und machte sich endlich ans Essen. Mit gesenktem Kopf nahm er gerade den dritten Bissen zu sich, als ihm auffiel, dass ich nichts aß.
»Was ist?«
»Ich mag keine Erbsen.«
»Warum?«
»Ich mag sie einfach nicht.«
»Es gibt aber nichts anderes.«
»Das macht nichts. Ich habe keinen Hunger.« Ich legte die Gabel weg und sah ihm beim Essen zu. Nachdem er aufgegessen, den Teller mit Brot blank geputzt und ein halbes Glas Wein getrunken hatte, wischte er sich Mund und Schnauzbart mit der Serviette ab und ging zum Kühlschrank. Doch dort fand er nicht, was er suchte. Er öffnete die Tür zum Keller. Ich hörte, wie er die Treppe hinunterging. Kurz darauf war er wieder da.
»Isst du Käse?«, fragte er und zeigte mir einen ganzen Laib, der von einer dunklen, runzeligen Rinde bedeckt war.
Ich nickte.
Auf einem Holzbrett schnitt er mir eine großzügig bemessene Scheibe ab und für sich ein Stück Rinde, das er vorsichtig mit dem Messer aufspießte.
»Darf ich dich mal was fragen?«, sagte ich und biss in den Käse, den ich zwischen zwei übrig gebliebene Brotscheiben gelegt hatte.
»›Darf ich dich mal was fragen‹ ist bereits eine Frage.«
»Was sind das für Grotten am Eingang zum Dorf?«
Er kratzte sich den Bart. »Das sind Grotten.«
»Was ist da drin?«
»Steine. Wasser.«
»Kann man hineingehen?«
»Ja«, sagte er. »Aber das ist gefährlich. Also nein.«
»Sind es Grotten oder Minen?«
»Grotten. Natürliche Grotten.«
»Sind sie tief?«
»Ja«, sagte er und stand auf, um eine Tüte von der Konsole zu nehmen. »Sehr tief. Sie sind bei den Staudammarbeiten entdeckt worden. Man hat auch versucht, sie zu nutzen, keine Ahnung, wofür. Aber dann hat man davon Abstand genommen. Bist du schon einmal in einer Grotte gewesen?«
»Ja, ein einziges Mal«, antwortete ich. »Mit der Schule. Warum hat man sie nicht genutzt?«
Er stopfte seine Pfeife. »Aus Angst vermutlich.«
»Aus Angst wovor?«
»Davor, dass sie einstürzen. Das haben mir die alten Leute erzählt, als ich hergezogen bin.«
»Seit wann lebst du hier?«
»Seit ein paar Jahren.«
Jemand klopfte. Großvater machte auf. Ein älterer Herr mit einem gelblichen Bart war gekommen. Geflüster. Großvater stieg in den Keller hinab und kam kurz darauf mit einem Jutesack zurück, den er dem Mann gab, der an der Tür gewartet hatte. Noch mehr Geflüster, dann wurde die Haustür geschlossen, und Großvater setzte sich wieder.
Ich strich über den Tisch, um die Krümel zusammenzufegen, und sagte: »Wusstest du über mich Bescheid?«
»Wie meinst du das?«
»Wusstest du, dass ich geboren bin?«
Großvater deutete mit dem Mundstück seiner Pfeife auf eine Wandnische links von mir. Halb versteckt zwischen Vorhang und Fenster hing eine Pinnwand aus Kork, an der mit Reißzwecken mehrere Fotos befestigt waren. Drei davon zeigten meine Mutter und elf mich: für jedes Lebensjahr ein Foto, mein Leben bis zu diesem Moment, Bilddokumente meiner Entwicklung.
Ich war verblüfft. »Warum hast du mir nie geschrieben?«
»Ich nehme an, deine Mutter hat dir meine Briefe nie gegeben.«
»Welche Briefe?«
»Die Briefe, die ich dir geschrieben habe. Viele sind es zugegebenermaßen nicht gewesen. Einer pro Jahr, würde ich sagen. Ich habe mich darin nach dir erkundigt, dich gebeten, mir ein Foto zu schicken. Und das hat sie immer getan, auch wenn der Briefumschlag nur Bilder enthielt und keine einzige Zeile von ihr … Dachtest du, ich bin tot?«
»Ja.«
Er lachte, behielt den Rauch lange im Mund und blies dann einen großen Ring in die Luft. »Womit du gar nicht so unrecht hattest.« Er nahm den Pfeifenstopfer und drückte den Tabak in den Pfeifenkopf. »So war es nun mal«, sagte er. »Viel gibt es dem nicht hinzuzufügen.«
Wir schwiegen eine Weile.
»Das mit deinem Vater tut mir leid.«
»Er wird wieder gesund.«
»Bestimmt.«
»Er muss einfach!«
»Ist er ein guter Vater?«
»Wie bitte?«
»Verbringt ihr viel Zeit zusammen?«
»Ich denke schon.«
»Was macht ihr?«
»Wir gehen angeln.«
»Angeln?«
»Einmal habe ich einen Riesenseebarsch gefangen.«
»Ich war noch nie angeln.«
»Eines Tages nehme ich dich mit«, sagte ich.
Schweigen.
»Magst du das Meer nicht?«
Großvater neigte den Kopf, als wollte er Sand aus einem Ohr rieseln lassen. »Zeit zum Schlafengehen!«, sagte er.
Ich sah auf die Wanduhr über dem Bücherregal. »Es ist halb
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