Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
neun.«
»Dann lies, spiel, tu, was du willst«, sagte er barsch. »Hauptsache, du bleibst auf deinem Zimmer.«
»Aber …«
»Jetzt, sofort!«
Seine Stimme war rau geworden, hatte alles Positive, alle Möglichkeiten, die in diesem Gespräch zwischen uns aufgekeimt waren, zerrieben. Auf einmal war es stockfinster, und ich hatte das Gefühl zu ersticken. Ich fühlte mich wie in einem Vakuum, wodurch mir die Trennung von meinen Eltern umso schmerzhafter bewusst wurde. Mich ergriff jene heimliche Furcht, die in Kindern aufsteigt, wenn sie merken, dass sie sich nicht selbst genügen. Ich war nicht autark und würde in den nächsten Monaten von diesem Mann abhängig sein.
Plötzlich wurde ich nervös wegen meiner schmutzigen Unterwäsche (Was tun? Wohin damit? Wer würde sie waschen?), wegen etwaiger Bauchschmerzen, die nur der Salbeitee mit Zitrone meiner Mutter lindern konnte. (Wen darum bitten, wenn ich wieder Bauchweh bekommen sollte?) Und was, wenn ich ernsthaft krank werden, ja Fieber kriegen sollte? Es war das erste Mal, dass ich so lange von meinen Eltern getrennt sein würde. Ihre Gesichter begannen zu verschwimmen, kamen mir verzerrt vor. Ich wusste gar nicht mehr genau, welchen Abstand die Augen meines Vaters zu seiner Nase hatten, wie sein Kinn aussah, wie lang seine Haare waren.
Großvater hatte mit dem Abwasch begonnen. Von ihm unbemerkt, nahm ich ein Foto von meiner Mutter von der Pinnwand, das allerneueste, und ging damit auf mein Zimmer. Ich schloss die Tür, warf mich aufs Bett und umklammerte zitternd das Kissen, verbarg mein Gesicht in dem rauen Stoff, bis ich blau anlief, um mich dann wieder zu beruhigen.
Ich holte die Zeichnung vom Tod Gwen Staceys aus meiner Tasche. Die nächste Stunde verbrachte ich damit, die Konturen ihres Körpers, die Krümmung ihres Rückens zu perfektionieren, um ihren Sturz so dramatisch wie möglich aussehen zu lassen. Ich überarbeitete den Winkel von Nacken zu Wirbelsäule, dort, wo sie sich das Genick gebrochen hatte; Peters sich zusammenziehende Muskeln, das Spinnennetz, das ihrem Fall abrupt Einhalt gebietet, und das Genick, das KRACK ! macht. KRACK ist das Geräusch, das entsteht, wenn ein Leben ausgelöscht wird – kein Pizzaessen mit Freunden, keine Ferien mehr, die man verplanen kann, eine Fernsehserie, deren Ende man nicht mehr miterleben wird.
Ich hielt mir die Nase zu und pustete. Ich hatte das Bedürfnis, meine Ohren knacken zu lassen, aber sie waren nicht verstopft. Das Rauschen darin war der Widerhall der Stille. Im Haus war nicht das kleinste Geräusch zu vernehmen. Ich wusste nicht, ob Großvater ausgegangen war oder noch unten saß und rauchte. Gegen elf wurden mir die Lider schwer. Aus einer Tüte holte ich die kurze Hose und das Oberteil meines Sommerschlafanzugs. Die Zeichnung ließ ich zusammen mit dem Federmäppchen auf der Fensterbank liegen. Ich löschte das Licht. Das Mädchen fiel mir wieder ein, und ich spähte aus dem Fenster. Aber draußen waren nur Schatten und Wind zu sehen sowie blasses Mondlicht. Unter der Bettdecke versuchte ich, das Star TAC zu aktivieren. Vielleicht gab es Orte, an denen die Handysignale kurz durchkamen. Vielleicht musste man warten, bis ein Satellit genau an der Erdposition vorbeikam, an dem Breiten- und Längengrad. Vielleicht musste man eine bestimmte Uhrzeit abwarten, und nur dann erwachten die Handys wie Werwölfe. Deshalb hielt ich es für eine gute Idee, mich mit dem eingeschalteten Star TAC schlafen zu legen. Vielleicht würde ich mitten in der Nacht von einer SMS meines Vaters geweckt, um dann einen Witz oder eine Bemerkung über das Fußballgeschehen vorzufinden. Palermo war in jenem Jahr auf dem zweiten Platz gelandet und hatte das Play-off gegen Savoia zwei zu null verloren, wodurch es knapp ausgeschieden war. Ich schlief also mit dem Handy ein, das ich in meinen wie zum Gebet gefalteten Händen hielt. Und als der Akku kurz vor Tagesanbruch leer war und das Star TAC ausging, merkte ich es nicht einmal.
Am nächsten Morgen kam ich um halb zehn zum Frühstück hinunter. Auf dem Tisch standen Milch, Brot und ein Glas Brombeermarmelade. Es gab auch ein Glas Honig, an dem ein Zettel klebte: Butter ist im Kühlschrank. Ich machte die Milch warm und strich Marmelade aufs Brot. Auch wenn die Stille nicht mehr dieses weiße elektromagnetische Rauschen war, das mich nachts eingehüllt hatte, sondern eine mit natürlicher Atmung und Sauerstoff gesättigte Stille, brauchte ich dringend ein bisschen Musik.
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