Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
Während ich an meiner Scheibe Brot kaute und mir die Marmelade von den Fingern leckte, sah ich mich nach einem Fernseher um, doch es gab keinen. Ich suchte nach einem Radio, aber auch das existierte nicht. Ein Tropfen Marmelade fiel auf meine Schuhe, ohne dass ich es überhaupt bemerkte, so baff war ich. In einer Ecke hinter dem Sofa entdeckte ich einen Plattenspieler und eine LP -Sammlung: überwiegend Jazz und klassische Musik. Ich ging die Plattencover durch, doch Fehlanzeige: Es war nicht eine einzige LP mit so etwas wie Rockmusik zu finden, nicht mal eine uralte von Bill Haley oder den Nomadi, die meine Mutter so gern hörte. Und auch keine mit Oldtimerhits. Ich gab mich geschlagen, drehte die Gasflamme unter der Milch ab, tunkte sämtliches Brot darin ein, das noch da war – ich hatte am Vorabend nur wenig gegessen und war mit einem Riesenhunger aufgewacht –, und brach gleich nach dem Frühstück ins Dorf auf, um es zu erkunden.
Obwohl die Sonne schien, war es frisch. Kurz vor der Piazza entdeckte ich im Innenhof eines zweistöckigen Hauses einen Jungen, der auf einen Basketballkorb zielte. Der hing an der Garagenwand und hatte kein Netz mehr. Der Junge war etwas älter als ich, vierzehn vielleicht. Er hörte laute Musik, die aus einem CD -Player auf der Fensterbank kam, von Rage Against the Machineoder so. Er spielte gegen sich selbst, stellte sich ganze Streetball-Mannschaften vor, die er angreifen konnte. Fluchend fuhr er die Ellbogen aus. Er täuschte nach rechts, täuschte nach links, Wurf, Korb. Er warf die Arme hoch und forderte Applaus von einem unsichtbaren Publikum, das sich hinter einem nicht vorhandenen Drahtkäfig befand. Ich beobachtete ihn heimlich mehrere Minuten lang hinter einem Schild mit der Aufschrift »Klettergarten« und ging dann weiter.
Auf den einzigen beiden Bänken der Piazza saßen im Schatten des Kirchturms drei alte Männer. Einer hatte einen Mischlingshund dabei, der zu seinen Füßen lag. Sie unterhielten sich, und als ich vorbeiging, verstummten sie. Ein Jeep lud einige Rollen Maschendraht ab. Ich sah ein Paar mit Hund, eine alte Frau mit einem Korb voller Blumen und einen Jungen auf einem grünen Dreirad; seine kleine Schwester hüpfte hinter ihm her, und die Großmutter rief: »Bremsen, bremsen, du tust dir noch weh!« Eine französische Touristengruppe mit Turnschuhen und Rucksäcken diskutierte über einer Landkarte und maß Höhenlinien. Mit den Spitzen ihrer Teleskopstöcke zeigten sie mal in die eine, mal in die andere Richtung. Ich entdeckte einen umzäunten Fußballplatz mit einem einzigen verrosteten Tor. Nach einer halben Stunde hatte ich jeden Winkel von Colle Ferro gesehen, in Innenhöfe gespäht und zwei Katzen aufgescheucht. Was machten die Leute hier bloß im Sommer? Was konnte man hier als Junge nur tun, um nicht einzugehen vor Langeweile? Und was konnte ich tun, um nicht andauernd von Gedanken an meinen Vater in die Tiefe gezogen zu werden? Das Star TAC war geladen, am Nachmittag würde ich nach einem Ort im Dorf Ausschau halten, an dem man Empfang hatte, aber vorher wollte ich mir noch die Zeit damit vertreiben, nach dem Mädchen vom Vortag zu suchen, das ich gesehen hatte.
Ich ging zu den Alten auf der Bank, und der Mischlingshund wachte auf.
» Buongiorno .«
Einer klappte die Zeitung zu, die er gerade las, und sah mich an.
»Wohnen Sie hier?«, fragte ich.
»Ja«, antwortete der mit der Zeitung.
»Wir wurden hier geboren«, sagte der Zweite, auf dessen Schoß trotz der Sonne eine Wollweste lag.
»Und so wie es aussieht, werden wir hier auch sterben«, meinte der Dritte.
Alle drei lachten ausgiebig über diesen Witz.
»Kennen Sie ein Mädchen, ungefähr in meinem Alter? Gestern hat sie ein blaues Kleid mit einem weißen Stoffgürtel angehabt.« Ich zeigte auf meine Taille.
»Ein Mädchen? Mariellas Tochter vielleicht, aber die ist älter als du«, sagte der mit der Zeitung.
»Oder die Enkelin der Briefträgerin, aber die ist erst zwei«, sagte der mit der Wollweste auf dem Schoß.
»Und wer bist du?«, wollte der Dritte wissen.
»Ich heiße Zeno.«
»Wir haben dich noch nie hier gesehen.«
»Ich wohne bei meinem Großvater.«
»Bei deinem Großvater? Und der wäre?«
»Er heißt Coifmann.«
Die drei warfen sich einen verstohlenen Blick zu. Der mit der Weste musterte mich über seine Brillengläser hinweg. »Bist du tatsächlich sein Enkel? Ich wusste gar nicht, dass er einen hat.«
»Tja, aber er hat einen!«, sagte ich und breitete
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