Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
mehr viele von diesen Kellern.«
»Hast du auch so einen Dorn zum Hineinbohren?«
»Zum Hineinbohren?«
»Um den Käse zu verkosten. Das habe ich auf einer Käsemesse gesehen.«
»Du warst auf einer Käsemesse?«
»Mit der Klasse.«
Großvater holte einen Korkenzieher aus einer Schachtel, der gar kein Korkenzieher war. »Damit entnehmen wir kleine Proben.« Er drehte ihn zwischen den Fingern hin und her und hielt ihn mir unter die Nase. »Willst du mal probieren?«
»Ja.«
Er zeigte mir, wie man die Rinde durchbohrt, wie man Druck ausübt, ohne dass sie reißt. Er bot mir das herausgezogene Stück an, aber als ich es gerade probieren wollte, sagte er »Warte!« und eilte die Treppe hinauf. Im Reiferaum war es dunkel. Ein merkwürdiges Gurgeln drang aus Berg und Boden, und die Luft war feucht. Ich empfand den Ort als unangenehm, doch ich rührte mich nicht von der Stelle. Großvater kehrte mit einer Scheibe Brot zurück. Aus einer Butterdose kratzte er mit dem Messer ein Flöckchen. Er befahl mir, den Käse mit Brot und Butter zu essen. Ich kostete davon. Sofort füllte sich mein Mund mit fettem Schmelz.
»Schmeckt er dir?«
»Ja.«
»Was schmeckst du?«
»Wie, was schmecke ich?«
»Im Mund.«
»Keine Ahnung. Käse.«
»Du musst den Geschmack analysieren.«
»Milch?«
»Und was noch?«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mir fiel der Besuch der Käsemesse wieder ein, und um ihm einen Gefallen zu tun – denn ich wusste, das ihm das gefallen würde –, sagte ich: »Stroh, Heu …« Ich versuchte ernst zu bleiben, befürchtete aber, laut loslachen zu müssen. Doch als ich mich Heu und Stroh sagen hörte, hatte ich auf einmal den unverwechselbaren Geschmack von Heu und Stroh auf der Zunge: wirklich erstaunlich, da ich noch nie einen Halm Heu oder Stroh in den Mund genommen hatte. Aber ich war mir sicher, dass er danach schmeckte.
»Die da heißen Stellagen.« Er zeigte auf die Regale. »Sie sind aus Tannen-, Ulmen- und Kirschholz.«
Das war kein Keller, sondern eine Zeitreise. Mir fielen Illustrationen aus dem Mittelalter ein, die ich in Geschichtsbüchern gesehen hatte.
»Wenn das nicht dein Käse ist, wem gehört er dann?«, fragte ich.
»Einem Hirten aus der Gegend«, antwortete er. »Cesco. Manchmal taucht er auf, um den Reifeprozess zu kontrollieren. Er hat einen Schlüssel und kommt und geht, wann er will. Deshalb habe ich dir den Keller gezeigt. Damit du Bescheid weißt.«
»Ist Cesco der, der gestern Abend da war? Der Typ mit dem gelblichen Bart?«
»Ja, genau der.«
»Verstehe.«
»Und jetzt hör mir gut zu …«
»Ja.«
Großvater war auf mich zugegangen und genau unter der Deckenleuchte stehen geblieben. Das Licht warf furchterregende Schatten auf sein Gesicht. »Das ist das erste und letzte Mal, dass du hier runterkommst.«
»Warum?«, wollte ich wissen.
»Ich möchte, dass du den Keller nie mehr betrittst«, sagte er. »Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
»Ja.«
»Nie mehr.«
»Nie mehr«, wiederholte ich.
»Unter keinen Umständen«, sagte er und deutete auf mich. Sein Zeigefinger kam mir unheimlich lang vor. »Haben wir uns verstanden?«
Im Lauf des Vormittags hatte sich der Akku des Handys wieder aufgeladen. Ich steckte das Star TAC in meine hintere Hosentasche und nahm die Straße ins Dorf. Auf Höhe der Abzweigung zum Klettergarten hörte ich, wie jemand sagte: »He, du!« Ich drehte mich nicht um, fühlte mich gar nicht angesprochen. Dann hörte ich wieder diese Stimme: »He, hör mal!«, und dieses »Hör mal« kam durch die Luft auf mich zu und klopfte mir auf die Schulter. Es war der Basketballspieler. Er hatte einen Kopfhörer um den Hals hängen, saß auf dem orangefarbenen Ball der Firma Spalding und trank Chinotto aus einer Dose.
»Redest du mit mir?«
»Wie heißt du?«
»Zeno.«
»Ich habe dich noch nie gesehen.«
»Ich dich auch nicht«, erwiderte ich. »Besser gesagt bis heute Morgen, denn da habe ich dich Basketball spielen sehen.«
»Du bist das erste Mal hier, stimmt’s?«
»Ja.«
»Und?«
»Was, und?«
»Wie heißt du?«
In so kurzer Zeit war ich noch nie so oft nach meinem Namen gefragt worden.
Ich sagte, das dürfe ich leider nicht sagen, da ich in einem Zeugenschutzprogramm untergebracht sei. Ich hätte einen Mafiamord mit ansehen müssen und sei unter falschem Namen hier. Die Polizei habe mir einen Chip eingepflanzt – ich zeigte ihm mein Handgelenk –, um mich jederzeit orten zu können.
»Erzähl keinen Scheiß!«, sagte
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