Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
die Arme aus.
»Wir kennen das Mädchen nicht, das du suchst. Leider.«
Ich bedankte mich und betrat den Lebensmittelladen. Ein paar Plakate im Fenster neben der Tür und am Tresen bewarben ein Tortellino-Fest sowie Feste zu Ehren irgendwelcher Schutzheiliger. Im Laden roch es nach Mehl und Hefe. Außer mir waren noch Signora Rosa, die Besitzerin, und zwei weitere, nach mir hereingekommene Kunden zugegen. Alle schienen sehr freundlich zu sein, bis sie fragten, mit wem ich verwandt sei. Als ich sagte, ich sei Simone Coifmanns Enkel, verstummten sie verblüfft.
Ich sah, dass es auf dem Weg zum Klettergarten ein Bed & Breakfast gab. Dort schaute ich mich neugierig um, und auch in der Unterkunft des italienischen Alpenvereins – leider vergeblich. Als ich den Heimweg antrat, begegnete ich dem Jungen mit dem Basketball. Er ließ ihn auf einem Finger kreiseln. Wir gingen mit gespielter Gleichgültigkeit aneinander vorbei. Ich wusste nicht, wie spät es war, aber bestimmt blieb noch genügend Zeit, den Stausee einmal zu umrunden. Aber auch dort fehlte jede Spur von dem Mädchen. Ich blieb eine halbe Stunde und ließ Steine über das Wasser hüpfen. Ein Vogel flog mehrmals über meinen Kopf hinweg und stieß einen markerschütternden Schrei aus. Ich lief über den Staudamm und versuchte mir vorzustellen, was wohl passieren würde, wenn er plötzlich bräche: Schäumende Wassermassen würden Häuser und Bäume mit sich reißen, sich in Schlamm verwandeln, während ich zwischen den Stromschnellen hindurch zu meinem Vater ans Meer paddeln würde.
Es wurde Zeit fürs Mittagessen, und ich kehrte um.
Großvater kochte. Seine Begrüßung fiel so leise aus, dass sie sich im Zischen des Öls in der Pfanne verlor. Ich ging mir die Hände waschen. Als ich zurückkam, standen Würste und eine Schüssel mit Tomatensalat auf dem Tisch. Wir aßen in klösterlicher Stille. Das Essen wurde nicht gekaut, sondern eher eingesogen, von Gaumen und Zunge aufgenommen. Kauen bedeutet, die eigene Anwesenheit zu verraten. Als nichts mehr übrig war, was man sich einverleiben konnte, stand Großvater auf, um sich einen Kaffee zu machen. Er wartete, bis die Espressokanne ihren Dienst getan hatte, und fragte, wie ich den Vormittag verbracht habe. Ich erzählte es ihm, doch er schien sich nicht sonderlich dafür zu interessieren. Er gab keinerlei Kommentar dazu ab. Er habe einen Spaziergang gemacht, um auf andere Gedanken zu kommen, sagte er, so als rechnete er mit einer Bemerkung von mir, mit einem zustimmenden oder tröstenden Wort vielleicht.
Ich streckte die Hand nach einer Schachtel Spielkarten aus. Darin befanden sich zwei französische und zwei neapolitanische Kartenblätter. Mein Vater und ich spielten am liebsten Burraco. Beim Burraco war ich seiner Aussage nach zweifellos einer der zehn weltbesten Spieler unter dreizehn. Ich mischte die Karten und teilte schweigend aus. Ich starrte sie an, ohne auch nur eine einzige anzufassen. Dann sammelte ich sie wieder ein und legte sie an ihren Platz zurück. Ob Großvater wohl Burraco spielte oder Pinnacola? Ob er mir vielleicht Patiencen beibringen konnte? Alte Leute kennen immer irgendwelche Patiencen. Aber als ich ihn gerade danach fragen wollte, kam er mir zuvor.
»Ich will dir etwas zeigen.« Er schlürfte den letzten Rest Kaffee aus seiner Tasse, stellte sie in die Spüle und öffnete die Tür zum Keller. »Pass auf!«, sagte er und wies auf die Treppe. »Die Stufen sind glatt.«
Eine gelbe, durch einen Drahtkorb gesicherte Deckenleuchte erhellte die Stufen. Ein kalter Luftzug kam uns entgegen, der einen Geruch nach Schimmel und Dickmilch mit sich brachte. Am Ende der Stufen erwartete uns ein relativ großer Raum, in dem drei oder vier Tischtennisplatten Platz gehabt hätten. Er war bis oben hin mit Käse gefüllt.
»Das ist der Reiferaum«, erklärte er.
Eine Wand bestand aus nacktem Fels. Die Wand war der Berg. Der Stein schwitzte, Tropfen fielen auf den braunen Lehmboden. Das garantierte eine konstante Luftfeuchtigkeit, die für das Reifen der Käselaibe in den Regalen notwendig war. Der Geruch war überwältigend.
»Na, was sagst du?«
Ich hatte so etwas Ähnliches schon einmal in einem Dokumentarfilm gesehen, den uns die Biolehrerin vor dem Besuch einer Käsemesse gezeigt hatte. Mir fielen die Typen wieder ein, die einen hohlen Stab in den Käse bohren, um Proben zum Verkosten zutage zu fördern.
»Ist das dein Beruf? Machst du Käse?«
»Nein, ich bewache ihn nur. Es gibt nicht
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