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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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er.
    »Coifmann, kennst du den?«
    »Klar.«
    »Das ist mein Großvater.«
    »Der Schweiger?« Er riss die Augen auf. »Du bist der Enkel vom Schweiger?«
    »Vom Schweiger?«
    »Schweiger, von schweigsam. Der Schweiger, der mit niemandem redet und ganz allein in dem Haus am Wald wohnt. Ich wusste gar nicht, dass der Verwandte hat. Warum bist du nicht früher gekommen?«
    Ich zuckte die Achseln.
    »Ich dachte, der ist verrückt. Ist dein Großvater verrückt?«
    Der Typ fing an, mir auf die Nerven zu gehen. »Nein.«
    »Aber wer ist er? Ich meine, wer war er, bevor er herkam?«
    »Ich glaube nicht, dass dich das was angeht.«
    »Alles, was in Colle Ferro passiert, geht mich etwas an.«
    »Wohnst du hier?«
    »Ja.«
    »Im Ernst?«
    »Ja, im Ernst«, sagte er. »Warum?«
    »Und wo gehst du zur Schule?«
    »Was geht dich das an? Warum willst du das wissen?«
    »Nur so.« Ich machte eine dramatische Pause. »Du gehst doch zur Schule, oder etwa nicht?«
    »Klar gehe ich zur Schule! In Cortazola. Mein Großvater fährt mich hin.«
    »Du wohnst also auch bei den Großeltern?«
    »Ja.«
    »Warum?«
    »Weil meine Eltern tot sind.«
    Tot? Als er das sagte, verschlug es mir die Sprache. Weniger wegen der Nachricht, die natürlich tragisch war, sondern wegen der Ungerührtheit, mit der er sie verkündete, ja wegen der Form seiner Lippen, als diese Worte seinen Mund verließen und Gestalt annahmen. Sie hatten sich nicht einmal gekräuselt, kein Zucken hatte sie durchlaufen.
    Ich hasste ihn für die alles andere als selbstverständliche Selbstverständlichkeit, mit der er das gesagt hatte. Es gibt schließlich nichts Unnatürlicheres, als Vater oder Mutter zu verlieren, wenn man noch ein Kind ist. Ich hasste ihn für seinen angeberischen Tonfall, der weder Schmerz noch Bedauern erkennen ließ. War es möglich, über so etwas nicht wütend zu sein? Wie schaffte er es bloß, keine Zuckungen und keinen epileptischen Anfall zu bekommen? Am liebsten hätte ich ihm gesagt, dass er eines Tages verrückt werde, wenn er weiterhin mutterseelenallein Basketball spiele, und zwar deutlich verrückter als mein Großvater. Dass er völlig herzlos sein müsse, um mit einem Wildfremden in diesem Ton darüber zu reden, ja, dass er offensichtlich nicht mehr ganz dicht sei. Aber während ich das dachte, trank er seinen Chinotto aus. Nachdem er die Dose an seine Stirn geführt und gewartet hatte, bis ich zu ihm hinsah, zerquetschte er sie einhändig zu einer Metallscheibe. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, warf er sie wie ein Frisbee über die Schulter, sodass sie punktgenau in einem Abfallkorb voller leerer Lackdosen landete. Dann stand er auf. Er trug ein schwarzes Unterhemd, das seine trainierten Arme zur Geltung brachte – darauf umklammerte ein Gitarrist in einer grau schillernden Schuluniform den glänzenden Hals einer schwarzen Gibson –, und dazu eine kurze Jeans. Er hatte sehnige, kräftige Hände. Hätten wir uns geprügelt, wäre das bestimmt nicht gut für mich ausgegangen.
    »Spielst du Basketball?« Er warf den Ball und fing ihn wieder auf, manövrierte ihn um seine Beine herum.
    »Nein, tut mir leid.«
    »Das sollte dir wirklich leidtun! Basketball ist einfach göttlich. Was kannst du sonst?«
    »Wie bitte?«
    »Was du sonst kannst? Worin bist du gut?«
    Ich zuckte die Achseln. »Ich kann einigermaßen Fußball spielen. Ich zeichne und spiele Burraco.«
    Er fing den Ball auf, verzog angewidert das Gesicht, so als hätte er sich an einer Spinne verschluckt. »Du spielst Karten?«
    »Du etwa nicht?«
    »Doch, ja, das heißt … klar kann ich Karten spielen. Aber wen interessiert das schon? Ich spiele Karten – das ist doch nichts zum Angeben. Das sagt man doch nicht, wenn man sich irgendwo vorstellt und andere beeindrucken will! Ich kann supercool Skateboard fahren. Ich mache Motocross. Ich bin zum dritten Mal Meister in Taekwondo geworden. So was kann man sagen, aber doch nicht, dass man zeichnet. Dass man einigermaßen Fußball spielen kann. Und erst recht nicht, dass man Karten spielt! Musik? Nur, wenn man eines von drei unverzichtbaren Instrumenten spielt: Gitarre, Bass oder Schlagzeug, kapiert? Du hast dringend jemanden nötig.«
    »Jemanden nötig?«
    »Jemand, der dir sagt, wo’s langgeht«, sagte er und drehte den orangefarbenen Ball auf dem Zeigefinger. »Und dir zeigt, wie man Basketball spielt.«
    »Vielleicht leben wir auf verschiedenen Planeten«, sagte ich.
    »Vielleicht solltest du dir lieber erklären lassen, wie man

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