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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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Engländer auf der Konsole sowie die Schachtel mit Reißzwecken zwischen den aufeinandergestapelten Unterlagen im Regal und brach sich bläulich im Chrom des Plattenspielers. Das Prasseln hielt an, und es war nicht schwer festzustellen, woher es kam. Einer Spur klanglicher Brotkrumen folgend, erreichte ich die Kellertür. Sie war verschlossen. Als ich die Klinke berührte, fiel ein Lichtstrahl in den Raum. Er erhellte die Vorratskammer, die Hälfte meines Gesichts und ein dreißig, vierzig Zentimeter langes Stück Boden vor meinen Füßen. Das Geräusch schwoll an. Jetzt ließen sich zwei voneinander getrennte Laute unterscheiden, die sich überlagerten, aber nicht gleichzeitig erklangen und verschiedenen Ursprungs waren: Ursache und Wirkung. Die Treppe zum Keller war eine Art Wendeltreppe, so eng, dass der Reiferaum erst sichtbar wurde, wenn man die letzte Stufe erreicht hatte.
    Das ist Großvater!, dachte ich, wer sonst? Großvater, der arbeitet. Aber woran? Was hämmert er da? Er schlägt auf Metall, so viel war klar. Aber warum sorgte diese Erkenntnis dann nicht dafür, dass mein Herzklopfen nachließ? Warum rann mir der kalte Schweiß den Rücken hinunter, und warum dröhnte es unverändert in meinem Schädel?
    Ich fuhr mit der Hand über die raue, gewölbte Wand, folgte dem Schatten, der gelbem Licht wich, so als würde sich in der rauen Wand eine Alarmleuchte verbergen, und stieg langsam hinab. Als ich den Kellerlehmboden erreichte, entdeckte ich als Erstes einen Tisch und einen Stuhl – beides hatte es vor drei Tagen noch nicht gegeben. Großvater kehrte mir den Rücken zu, er hatte die Beine übereinandergeschlagen und den Oberkörper vorgebeugt. Das Licht – nicht das Deckenlicht, sondern eine am Tisch montierte Schreibtischlampe mit beweglichem Arm, die er so eingestellt hatte, dass ihre Glühbirne etwa zwanzig Zentimeter von seinen Händen entfernt war – flackerte im Rhythmus der Hammerschläge, die Großvater einer Ahle oder so etwas versetzte. Von meiner Position aus konnte ich das schlecht erkennen. Das war auch der Grund, warum ich nicht gleich wieder verschwand: Neugier. Was tat er da? Was ritzte, formte oder machte mein Großvater hier mitten in der Nacht, in einem feuchten Keller, umgeben von penetrantem Käsegeruch? Genau das fragte ich mich, als er meine Anwesenheit bemerkte und abrupt herumfuhr.
    »Was machst du hier?«
    Sein Groll gerann zu einer Falte zwischen den Augen, die seine Stirn zerfurchte und keine andere Aufgabe zu haben schien, als Angst und ein schlechtes Gewissen heraufzubeschwören. Ich antwortete nicht. Ich mochte mich zwar am feuchtesten Fleck im ganzen Haus befinden, hatte aber einen hoffnungslos trockenen Mund.
    Er legte den Hammer weg und schob den Stuhl zurück, von dem er sich mühsam erhob. Er war erschöpft, wirkte deutlich älter als noch beim Abendessen: kraftloser, trauriger.
    »Was habe ich dir gesagt?«
    Er schrie jetzt, hatte aber nicht mehr die Kraft, richtig zu brüllen, weshalb er nur eine Art Röcheln von sich gab, das mir erst recht ein schlechtes Gewissen machte. Ich hatte das unangenehme Gefühl, ihn nackt zu sehen, und schämte mich.
    »Was habe ich dir gesagt?«, wiederholte er.
    Plötzlich hatte er sich in ein quengelndes Kleinkind verwandelt, das wütend und machtlos vor sich hinwimmert, weil seine Intimsphäre verletzt wurde. Ich musste an meine Mutter denken, daran, wie sie gesagt hatte, wie schwer es uns fällt, uns mitzuteilen in den Momenten, in denen wir beim Reden beinahe in Tränen ausbrechen, während uns die anderen ungläubig anstarren, ohne auch nur ansatzweise zu begreifen, was an dem, was wir sagen, so wichtig ist. Ich musste wieder an mich und die Ananas denken und begriff, dass in meinem Großvater ein ganzes Universum des Schweigens existierte, das ich entweiht hatte. Ich wusste nicht, wie, nur dass ich es getan hatte.

Ein kurzer Abriss meines Lebens,
insoweit man sich überhaupt erinnern, die Vergangenheit
rekonstruieren oder imaginieren kann:
was die Erinnerung erhellt
1945–1951
    Der Krieg ist vorbei. Eines Tages kommt Onkel Marcello mit dem Auto ins Dorf und befiehlt uns, alles einzupacken, was wir mitnehmen wollen: Wir kehren nach Genua zurück. Wir packen unsere Kleider und einige Decken ein, wickeln Eier, Käse und Salat in Zeitungspapier – sämtliche Nahrungsmittel, die wir auftreiben können, denn wir wissen nicht, was uns in der Stadt erwartet. Laut Onkel Marcello ist Genua nicht mehr das, was es einmal war. Während

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