Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
der Akku nicht leer wurde, hatte ich das Star TAC ausgeschaltet. Es befand sich in meiner Hosentasche, und obwohl ich es am Oberschenkel spürte, tastete ich danach, ob es auch wirklich da war. Als ich den Trampelpfad erreichte, verlangsamte ich meine Schritte. Keine Steinmännchen wiesen mir den Weg, und auch keine Pfeile oder Schilder. Außerdem war der Pfad kaum zu erkennen, viele Leute kamen hier bestimmt nicht vorbei. Ich beschloss, mich auf mein Gefühl zu verlassen. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten stellte ich bald fest, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte, ganz so, als würde ich den Pfad schon ewig kennen.
Vierzig Minuten nach Verlassen von Großvaters Haus stand ich auf dem Monticello. Von dort aus sah man die Täler im Nordwesten, den Beginn der Ebene im Nordosten und konnte sich im Süden das Meer vorstellen: Man sah es zwar nicht, spürte es aber. Zwei dicke Wolken zogen in Richtung Genua. Ich stellte mir vor, dass unter ihnen die Klinik lag, in der mein Vater vor sich hindöste, während meine Mutter an seinem Bett saß und ihm vorlas. Zu Hause lasen sie sich abends im Bett manchmal laut etwas vor. Wenn ich das mitbekam, sauste ich los und legte mich in ihre Mitte. Zu dritt aneinandergekuschelt malten wir uns Welten aus. Wenn sie jetzt aus dem Fenster schauten, würden sie diese Wolken ebenfalls sehen, redete ich mir ein.
Ich zog das Handy aus der Hosentasche und schaltete es ein. Ich beobachtete, wie es anging und blinkend nach einem Netz suchte. Ich wartete und hatte plötzlich Empfang. Auf dem Display erschien erst ein Balken und dann noch einer. Zwei waren zwar nicht viel, aber ausreichend. Jetzt brauchte ich nur noch darauf zu warten, dass die Signale meiner Mutter von den höheren Sphären der Telekommunikation zu meinem Star TAC geleitet würden. Ich setzte mich auf einen Stein und wartete und wartete.
Nichts. Das Handy schaltete in den Stand-by-Modus. Ich hatte Angst, es könnte dann schlechter funktionieren, also klappte ich es wieder auf, damit es aufleuchtete: Dieses Leuchten stand für Verfügbarkeit, für Aktivität. Wieder nichts. Ich schaute am Felsen empor. Vielleicht hatte man dort oben einen besseren Empfang. Vielleicht reichten zwei Balken doch nicht aus, um SMS -Botschaften zu empfangen. Vielleicht brauchte man dafür ein stärkeres Netz. Ich steckte das Star TAC in die Hosentasche und kletterte auf allen vieren auf den Gipfel. Der Fels gab nicht nach, war aber an einigen Stellen rutschig. Ich zog mich daran hoch, vertraute meinen Fingerkuppen. Nach einer letzten Anstrengung war ich ganz oben. Dort gab es höchstens Platz für drei Personen, und auch das nur, wenn man eng zusammenrückte, und es wehte ein starker Wind. Ich zog das Handy aus der Hosentasche. Nach wie vor waren nur zwei Balken zu sehen, für einen kurzen Moment erschien ein dritter, der aber sofort wieder verschwand.
Der erste Tropfen traf meine Hand neben dem Daumen. Ein anderer das Armband, das ich von meinem Vater bekommen hatte. Und ein dritter die Handytastatur. Ich hatte die Wolken gar nicht bemerkt, die sich über mir zusammengebraut hatten, mich nicht von ihren Schatten und der sinkenden Temperatur beeindrucken lassen, so sehr war ich in Gedanken versunken gewesen. Plötzlich dämmerte mir, dass ich nur in T-Shirt und Turnschuhen auf einem Felsgipfel saß, während ein Gewitter aufzog. Ich musste schleunigst umkehren. Aber der Fels wurde schon nass, und ich hatte große Schwierigkeiten, mit Sohlen und Händen nicht den Halt zu verlieren. Ich lernte, dass der Abstieg deutlich schwieriger ist als der Aufstieg. Ich rutschte mehrmals aus und bekam Herzklopfen. Der Regen wurde heftiger, der Wind schlug ihn mir ins Gesicht, und obwohl ich versuchte, mich mit dem Arm davor zu schützen, stachen die Tropfen wie Nadeln in meine Haut. Keine Ahnung, wie lange ich brauchte. Der Himmel tobte wie ein tollwütiger Hund. Die Natur hatte sich innerhalb weniger Sekunden gegen mich verschworen. Auf dem Meer war mir das auch schon passiert, aber die Fischer können im Wind und im Himmel, der sich im Wasser spiegelt, lesen. Hier in den Bergen war ich ein Analphabet und außerdem klatschnass. Ich hatte Angst, vor allem vor den Blitzen, und wusste auch nicht, ob ich mit Erdrutschen oder Schlimmerem rechnen musste. Mit Schlimmerem? Worauf sollte ich achten? Worauf schauen? Nachdem ich den Trampelpfad erreicht hatte, der von Rinnsalen durchzogen war, rannte ich schnurstracks in Richtung Klettergarten. Ein Donner
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