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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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blutet. Zwei größere Kinder werfen sich auf Gabriele; sie rollen über den Boden, treten sich, reißen an ihren Kleidern. Ich bin nicht da. Passanten mischen sich ein und trennen sie. Sie verlangen, dass sich einer beim anderen entschuldigt, aber niemand will den Anfang machen. Entmutigt geben die Leute auf. »Dumme Gören, ihr habt wirklich nichts aus dem Krieg gelernt!«
    Als wir wieder allein sind, werfen sich Gabriele und die Kinder weitere Beleidigungen an den Kopf.
    »Das war noch längst nicht alles!«, drohen die Kinder. Dann kehren sie in den Park zurück.
    Gabriele blutet aus der Nase, außerdem hat er eine Schürfwunde an der Stirn.
    »Von nun an werden sie dich nicht mehr ärgern«, sagt er.
    Wir betreten den Innenhof. Die Sonne verschwindet. Es riecht nach Schimmel. Zitternd laufe ich die Treppe hoch. Ich bekomme ein schlechtes Gewissen, es reißt mich mit wie eine Flutwelle. »Es tut mir leid«, sage ich.
    Gabriele mustert mich lachend: »Was würdest du nur ohne mich machen?«
    Als ich auf dem Treppenabsatz stehe und dreimal an die Haustür klopfe, sage ich: »Das darfst du niemals tun!«
    »Was?«, fragt er.
    »Fortgehen.«
    Unsere Mutter macht uns auf. Zerstreut sieht sie erst mich an und dann Gabriele. Sie hält sich das Putztuch vor den Mund.
    *
    Wir schlendern durch eine Straße im Zentrum. Eine Straßenbahn überholt uns quietschend, und auf den Puffern sehen wir eine dicke Traube Kinder, darunter einige, die in der Nähe unseres Hauses spielen. Sie beleidigen uns, befehlen uns aufzuspringen, falls wir uns das trauen. Wir reagieren nicht. Ich verstecke mich hinter Gabriele, der, die Hände in den Hosentaschen, gelassen weitergeht. Er pfeift. Eine zweite Straßenbahn taucht auf, und Gabriele sagt: »Komm!« Er rennt los und springt auf den Puffer wie auf ein Karussell. »Los, komm!«, ruft er. Ich möchte gern, bin aber wie gelähmt. Meine Füße kleben am Asphalt. Ich darf das nicht. Der Fahrer entdeckt Gabriele und schreit ihn an, aber der überhört das einfach. Ich beneide ihn.
    Gabriele ist mutig.
    Eines Tages verlassen wir gemeinsam die Wohnung, um etwas zu besorgen. Als wir auf der Straße stehen, fällt mir auf, dass er an einem Fuß einen Pantoffel und am anderen einen Schuh trägt. Ich weise ihn darauf hin.
    »Los, kehren wir um!«, sage ich.
    »Wegen dieser Kleinigkeit?«, erwidert er. »Ach, Quatsch! Außerdem haben wir es eilig. Gehen wir!«
    Ich folge ihm, aber ich schäme mich sehr, schäme mich für ihn. Wie macht er das nur, dass er sich nicht schämt?
    Auf dem Rückweg entdecken wir in einer Gasse zwischen Müll und Mäusen einen Bettler. Er trägt Lumpen. Gabriele hat ein paar Münzen in der Tasche, das Wechselgeld, das wir von unserer Mutter aus behalten dürfen, weil wir für sie eingekauft haben. Gabriele geht auf den Bettler zu und gibt ihm sämtliche Münzen. Der Bettler steht auf und verbeugt sich, zieht in einer übertriebenen Geste den staubigen Hut.
    »Danke, danke vielmals. Gott vergelt’s und beschütze euch! Ihr wart äußerst großzügig. Danke.«
    Doch als Gabriele das hört, stürzt er sich auf den Bettler, entreißt ihm das Geld, das er ihm gegeben hat, und presst es an seine Brust. »Sie sind ein Betrüger!«, ruft er. »Es gibt keinen Gott. Das ist auch der Grund, warum Sie betteln müssen.«
    Eines Tages kommt ein wichtiger Mann aus Israel zu Besuch. Er hat einen dunklen Teint und einen langen Bart, trägt eine schwarze Kappe und einen abgewetzten dicken Mantel. Es regnet ununterbrochen, Schlammbäche fließen durch die Straßen.
    »Wer ist das?«, wollen wir von unserer Mutter wissen.
    »Ein Verwandter. Er ist gekommen, um mit der Gemeinde zu sprechen. Er wird bei uns übernachten und mit uns essen.«
    Der wichtige Mann holt Teller für Milch und Fleisch aus seinem Koffer. Er traut uns nicht zu, dass wir wirklich koscher essen. Unsere Mutter will nichts falsch machen, deshalb kocht sie ein hartes Ei und legt es in eine kleine Schüssel. Während der wichtige Mann isst, rinnt ihm das Eigelb in den Bart und färbt ihn gelb. Gabriele und ich sitzen in einer Ecke und sehen stumm zu, wir lachen nicht.
    Nach dem Abendessen gehen unsere Eltern und der Großvater trotz des Regens mit ihm aus. Sie besuchen eine Versammlung. Gabriele und ich bleiben allein zu Hause. Wir stützen uns mit den Ellbogen auf die Fensterbank und verfolgen, wie die Regentropfen über die Scheibe rinnen und bizarre Wege nehmen. Gedankenverloren frage ich mich, was wohl aus dem Wald aus

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