Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
schlafen kann. Es ist die Stadt, Ich höre sie brodeln. Die Dunkelheit ist nicht so dunkel wie in den Bergen. In den Häuserschluchten staut sich beklemmende Anspannung. Warum hat die Bombe das Haus der Großeltern getroffen und nicht dieses hier? Wo sind Onkel und Tante, Cousin und Cousine? Welches Leben will sich unsere Mutter zurückerobern? Wird dieses Bett für immer mir gehören? Wenn das Leben vorher nicht unser Leben war, wessen Leben war es dann? Wen haben Christophe, Audrine und Madame Fleur kennengelernt, wenn diese Tage nicht unsere Tage waren? Wem gehörten diese Schritte und Umarmungen, wenn diese Füße und Hände nicht unsere Füße und Hände waren? Von wem stammten die Mandeln und das Blut im Spucknapf? Wer war dieses Kind, das sich im Wald zwischen Bäumen und toten Beinen herumtrieb? Das in Blanquefort in den Baumwolllaken verschwand und sich an die gestammelten Worte seines Bruders klammerte, um sich nicht vollständig aufzulösen?
Die Lieder aus der Osteria kann ich inzwischen auswendig. Manchmal pfeife ich sie, wenn ich tagsüber auf dem Balkon oder in der Voliere sitze und das Meer zwischen den Häusern betrachte.
*
»Hol Milch!«, sagt unsere Mutter.
»Und Gabriele, kommt der auch mit?«, frage ich.
Sie nimmt einen zylindrischen Metallbehälter aus dem Regal.
»Nein«, sagt sie. »Er ist mit deinem Vater im Keller. Zieh allein los!«
Ich bin noch nie ohne meinen Bruder in der Stadt gewesen. Allein beim Gedanken daran mache ich mir vor lauter Angst in die Hosen, aber mir fällt keine Ausrede ein. Ich nehme die Treppe, um mit dem Lift keinen Lärm zu machen. Ich öffne die Haustür gerade nur so weit, dass ich hindurchpasse, aber die Sonne attackiert mich trotzdem wie eine scharfe Klinge, so als hätte sie tagelang auf mich gelauert.
Ich lege schützend die Hand vor die Augen und schleiche am Zaun entlang. Ich nehme eine andere Farbe an. Ich werde grau wie Stein, gelb wie Putz, werde zu Asphaltstaub. Im Park spielen ein paar Kinder. Sie werfen mit Steinen nach Tauben, die sich auf den Zweigen einer Zeder niedergelassen haben. Andere ruhen sich im Schatten eines Kirchturms aus. Sie dürfen mich nicht sehen, mich nicht ansprechen. Denn wenn sie mich etwas fragen, wüsste ich nicht, was ich darauf antworten soll.
Wie heißt du?, zum Beispiel. Wer bist du? Woher kommst du? Auf Zehenspitzen schleiche ich zum Milchmann. Ich bitte ihn, den Behälter randvoll zu machen. Der Behälter hat einen Bügelverschluss. Ich zähle dreieinhalb Schöpfer, große Schöpfer. Während ich den Heimweg antrete, höre ich erst, wie jemand einem Ball einen heftigen Tritt versetzt. Dann sehe ich, wie der Ball drei Schritte vor mir gegen die Mauer prallt. Ich bekomme Gänsehaut, beginnend in der Nierengegend bis hinauf zum Nacken.
»Bist du der, der uns vom Fenster aus nachspioniert?«, sagt jemand.
Die Stimme kommt von der Straße, von dort, wo der Ball hingerollt ist und wieder hochspringt. Ich antworte nicht.
»Bist du taub?«
Ich drehe mich nicht um.
Ich höre, wie der Fuß des Jungen erneut gegen den Ball tritt, spüre den Luftzug, den bröckeligen Widerstand der Mauer. Meine Hand umklammert den Henkel des Behälters. Ich werde angegriffen, sie sind in der Überzahl. Sie mustern mich kritisch von Kopf bis Fuß, umzingeln mich. Ich spüre, wie ihre Blicke meine Schnürsenkel lösen, mir die Taschen leeren.
»Ich muss nach Hause«, sage ich.
»Was ist da drin?«, fragen sie.
»Milch. Für unsere Mutter.«
»Wieso sagst du ›unsere‹? Sind wir etwa miteinander verwandt?«
Ich warte, bis sie aufhören zu lachen. »Sie ist die Mutter von mir und meinem Bruder.«
Die Kinder rempeln sich an, eines spuckt auf den Boden.
»Und wer ist das bitte schön, dein Bruder?«, sagt eines.
»Ich.«
Alle fahren herum. Gabriele ist soeben aus der Haustür getreten, seine Hand liegt noch auf dem Türknauf. »Mama wollte, dass ich nachschaue, wo du bleibst. Hast du Freunde gefunden?«
»Wir sind nicht eure Freunde«, sagen die Kinder.
»Abwarten!«, erwidert Gabriele.
Eines der Kinder kommt näher, versetzt Gabriele einen heftigen Stoß, so als wollte es eine schwere Tür aufdrücken. Gabriele wehrt sich nicht, macht ein Hohlkreuz. Er stürzt nicht, sondern weicht zurück. Als er sein Gleichgewicht wiedergefunden hat, holt er mit der Linken aus, wobei er den Rumpf leicht dreht, und lässt sie dann wie eine Peitsche nach vorn sausen. Der Handrücken trifft den Jungen mitten ins Gesicht. Er stürzt. Seine Nase
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