Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
wir so taten, als gäbe es uns nicht, und uns als Familie Carati ausgaben, sei Genua in Grund und Boden gebombt worden. Er erzählt von Schutt, Geröll und Rauchsäulen, von Stühlen, Spielzeug und Haushaltsgeräten zwischen den Rauchsäulen und dem Schutt. Die ganze Stadt sei von Asche bedeckt.
Ich gehe über die Wiese, die unser Haus von dem Marias und Ioles trennt. Ich rufe nach ihnen. Sie sind beide im Haus, helfen ihrer Mutter im Haushalt. Sie kommen mit nassen Händen heraus, wedeln damit, um sie zu trocknen. Wir umarmen uns schüchtern, suchen nicht Halt in unseren geröteten Augen, sondern in unseren Stimmen. Wir versprechen uns, uns wiederzusehen, uns nicht zu vergessen. Die Eltern rufen, dass wir uns beeilen sollen. »Eines Tages komme ich wieder«, flüstere ich Iole ins Ohr. Ich schenke ihr einen Stanniolstreifen, den ich im Wald gefunden habe.
Gabriele gibt beiden eine geschnitzte Holzfigur mit klaren, groben Formen. »Das ist ein Elefant«, sagt er. »Ich habe mal irgendwo gelesen, dass Elefanten Glück bringen.«
Maria will ihn in ein Tuch wickeln, damit er nicht kaputtgeht. Doch Iole nimmt ihn und stellt ihn ins Gras zu den Ameisen, wartet darauf, dass er losschlendert, trompetet, mit dem Rüssel schlenkert. »Er ist wunderschön«, sagt sie.
Plötzlich steht unsere Mutter hinter uns. »Kommt!«, ruft sie. »Es wird Zeit, dass wir uns unser Leben zurückerobern.«
»Mein Leben ist hier!«, sage ich wütend. »Ich kenne kein anderes.«
»Bist du traurig, dass wir nach Genua zurückkehren?«
»Ich bin nicht traurig. Ich gehe nur ungern von hier fort.«
»So etwas darfst du nicht sagen. Von nun an wird es uns besser gehen, du wirst schon sehen!«
»Versprochen?«
Unsere Mutter drückt mich an ihren Rock, der nach Ofen und Rosmarin riecht. Ich warte, bis ich Gabrieles Körper spüre, der auch in diese Umarmung miteinbezogen werden sollte, aber dem ist nicht so. Er hilft Onkel Marcello beim Beladen des Wagens. Zwei alte Männer kommen langsam zu uns herauf, um sich von unserem Vater zu verabschieden. Sie wünschen uns alles Gute. Einer schenkt Gabriele eine Handvoll Samen. Der andere sagt: »Jetzt wird es kompliziert. Jetzt haben uns Leute wie ihr in der Hand.«
»Was?«, stammelt unser Vater.
Nicht vergessen. Wiederaufbauen.
*
Das Haus, in dem die Großeltern gewohnt haben, gibt es nicht mehr, eine Bombe hat es getroffen. Also gehen wir zu Fuß zum Haus von Onkel Elio. Es ist ein elegantes Gebäude, das die Bomben verschont haben. Darin gibt es einen Lift, den zweiten Lift meines Lebens, aber wir nehmen die Treppe in den dritten Stock, weil wir ihm nicht trauen. Um die Tür zu öffnen, müssen unser Vater und Onkel Marcello das Schloss aufbrechen.
Es gibt ein Esszimmer, ein Wohnzimmer, drei Schlafzimmer, ein Arbeitszimmer, eine Küche und zwei Balkone. Von ihnen sieht man den Innenhof mit einer großen Seekiefer in der Mitte, die ansteigende, von Treppen gesäumte Straße und einen kleinen Park an der Haarnadelkurve. Die Wände der Wohnung zeugen von Krieg, Hunger, Verfall. Überall Fotos von Onkel Elio und seiner Frau Rita, von unserem Cousin Primo und unserer Cousine Carla, die kaum älter sind als wir.
»Wo sind sie?«, frage ich.
»Weg«, erwidert unsere Mutter.
Wir sammeln alles ein, was ihnen gehört. Wir leeren die Schränke, Schubladen und Regale. Alles kommt ins Arbeitszimmer: die Kleider, die Taschen, die Fotos. Unser Vater schließt das Arbeitszimmer ab und legt den Schlüssel in eine Holzkiste, die er ganz weit hinten in einer Küchenschublade zwischen dem Besteck versteckt.
»Wann kommen sie wieder, um ihre Sachen zu holen?«, frage ich.
»Eines Tages«, erwidert unser Vater.
Gabriele und ich bekommen das kleinste Zimmer, das auf die ansteigende Straße und den kleinen Park hinausgeht, in dem Kinder spielen. Unsere Eltern beziehen das größere Zimmer, dem die Seekiefer nachmittags etwas Schatten spendet. Sie schieben das Ehebett unters Fenster und den Schrank links neben die Tür, um einen feuchten Fleck zu verbergen, der an der Wand prangt.
Großvater nimmt das hellste Zimmer: Es hat einen Balkon, auf den man sich setzen und von dem aus man zwischen den Häusern das Meer hervorblitzen sehen kann. Gabriele und ich taufen es »die Voliere«.
Kurz hinter der Haarnadelkurve und über dem Park befindet sich eine Osteria.
Dort singen die Leute bis spät in die Nacht, und die Lieder dringen durch die Mauern bis zu uns. Aber das ist nicht der Grund, warum ich nachts nicht
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