Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
das Aquarium besichtigen«, schlug meine Mutter vor.
»Unbedingt!«, erwiderte ich.
Sie blieb eine weitere Nacht. In dieser Zeit bekam ich kein einziges Mal mit, wie Großvater und sie ein paar Worte wechselten oder sich unterhielten. Ich hörte sie reden, wenn ich mich in meinem Zimmer befand, aber sobald ich herunterkam, verstummten sie. Wenn sie sich im Innenhof aufhielten, fand ich beim Verlassen des Hauses nichts als das Rauschen der Bäume vor. Am Morgen des dritten Tages fuhr sie wieder. Sie versprach, sich ein Handy zu besorgen – sie hatte versucht, auf jede nur erdenkliche Art herauszufinden, von wo aus man hier Empfang hatte, aber ich war stur geblieben. Wenn ich heute darüber nachdenke, hätte sie aus Sorge um mich den Anbieter wechseln können, aber diese Lösung ist mir erst viel später eingefallen. Sie versprach mir also, sich ein Handy zu kaufen, damit ich hin und wieder jenen Ort, den wir nur den »Kontaktaufnahmeort« nannten, aufsuchen konnte.
So würden wir in Verbindung bleiben, und mein Vater könnte mir schreiben.
Am Nachmittag machte ich mich auf die Suche nach dem Jungen mit dem Basketball, den ich insgeheim »Basketballjunge« getauft hatte, da ich ihn bei unserer ersten Begegnung nicht mal nach seinem Namen gefragt hatte. Wenn er der einzig andere Jugendliche in Colle Ferro war und wir beide den ganzen Sommer über an diesem Ort festsitzen würden, sollten wir vielleicht doch lieber einen Waffenstillstand schließen und versuchen, auf eine vernünftigere, weniger aggressive Weise Zeit zusammen zu verbringen. Ich suchte nach ihm, konnte ihn aber nirgendwo entdecken. Bei ihm zu klingeln, um zu sehen, ob er zu Hause war, wollte ich nicht; dafür war es noch zu früh.
Ich kehrte nach Hause zurück. Die Zeichnung von Phoenix hatte ich meiner Mutter letztlich doch nicht geschenkt, weil ich sie nicht gut genug fand, also fing ich von vorne an. Großvater machte den Plattenspieler an und blieb sitzen, um Miles Davis und Gil Evans zu hören, bis es Zeit zum Abendessen war.
Keine Ahnung, was mich in dieser Nacht weckte. Eher nicht das Geräusch, sondern Durst. Nachts habe ich nämlich oft Durst, vor allem wenn es am Vorabend Fleisch gegeben hatte, und ich weiß noch, dass Großvater mit Schaschlikspießen nach Hause gekommen war, bei denen sich rotes und weißes Fleisch mit Paprika, Zwiebeln und Fontinawürfeln abwechselte. Ja, vielleicht war es der Durst gewesen, der mich geweckt hatte, auf jeden Fall wurde ich wach, und ein unablässiges, metallisches Tropfen auf Stein drang durch die Ritzen und Fugen des Hauses zu mir. Es stieg die Leitungen empor und tropfte mir ins Ohr wie ein Medikament. Es war ein klares, helles Vibrieren, das aus dem Erdinneren zu kommen schien.
Zunächst setzte ich mich im Bett auf, um herauszufinden, woher das Geräusch kam. Aber genauso gut hätte ich versuchen können, unter Wasser Glassplitter einzusammeln. Ich stand auf und ging zur Tür, die ich nachts angelehnt ließ. Im Luftzug aus dem Flur, der durch den Türspalt ins Zimmer drang und zum Fenster hinaus verschwand, nahm ich das Geräusch wahr. Es kam aus dem Haus. Ich öffnete möglichst geräuschlos die Tür, aber als ich sie etwa zu drei Viertel geöffnet hatte, quietschten die Scharniere, und ich wagte nicht zu atmen. Ein, zwei Sekunden lang glaubte ich, das Geräusch sei verstummt, aber das lag nur an meinen Ohren, die wegen meines niedrigen Blutdrucks verstopft waren. Das metallische Prasseln war nach wie vor zu hören, eintönig, klar und deutlich. Ich blinzelte in die Dunkelheit. Die Tür zu Großvaters Zimmer war geschlossen. Ich trat näher, lauschte und hielt die Luft an. Nichts. Ich überlegte zu klopfen, konnte mich aber nicht dazu durchringen. Was sollte ich auch sagen? Dass mir ein seltsam kaltes Geräusch Angst eingejagt hatte? Ich ließ es bleiben und wollte wieder ins Bett gehen. Aber das Geräusch veränderte sich; ein, zwei Takte lang war es dunkel, hölzern. Nach einer Pause begann es erneut. Nein, ich konnte unmöglich zurück ins Bett, sondern musste der Sache auf den Grund gehen.
Es waren genau zwölf Stufen. Ich nahm eine nach der anderen, ertastete sie mit den Zehen, so als könnten sie sich jederzeit in ein Spinnennest verwandeln. Mit jedem Schritt füllten sich meine Pupillen mehr mit dem Licht, das im Erdgeschoss durch die Fenster drang. Ein silbernes Schimmern umgab das Sofa, die Möbel, die beiden Gläser auf dem Couchtisch, den Schlüsselbund, die Laubsäge und den
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