Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
ließ mich zusammenzucken. Ich schluckte und rannte noch schneller.
Irgendwann war ich zu Hause und taumelte tropfnass zur Tür herein.
»Da bist du ja.«
Ich schaute auf, schirmte meine Augen gegen das Wasser ab, das mir aus den Haaren tropfte. Meine Mutter saß am Küchentisch, während Großvater Tee in zwei Keramiktassen goss.
»Wir haben uns schon gefragt, wo du bleibst«, sagte meine Mutter.
Ich ging steif vor Kälte auf sie zu, während sich meine Gedanken überschlugen und versuchten, sich einen Weg ins Freie zu bahnen: Papà, Handy, SMS , Netz, Nachricht, Berg, Regen, Klinik, Großvater und dann: warum, warum der Tod, warum der Regen, warum hier, ich hier. Am Ende dieses Wortschwalls, der versiegte, bevor er zu einem Schrei oder einem tierischen Laut anschwoll, bemerkte ich, dass sich vereinzelt Tränen in die Wassertropfen auf meinem Gesicht mischten.
Großvater hatte ein Handtuch geholt. Er gab es meiner Mutter, die es auseinanderfaltete und mich darin einhüllte.
»Du hast ja ganz rote Augen«, flüsterte sie. »Hoffentlich bekommst du kein Fieber.«
»Ich habe das Auto gar nicht gesehen. Vielleicht weil ich so gerannt bin.«
»Es steht hinter der Kurve, in sicherer Entfernung von den Bäumen«, erklärte sie und rubbelte mir die Haare trocken. »Der Wind könnte Äste abbrechen. Aber jetzt geh nach oben und zieh dich um! Wir setzen noch mal Wasser auf. Ich habe Kekse mitgebracht.«
Ich kehrte bekleidet mit einer langen Jeans, einem Sweatshirt und dicken Socken zurück, die ich in meiner Reisetasche gefunden hatte. Der heiße Tee hüllte mich ein wie eine Decke, und in dieser wohligen Wärme fiel es mir leichter, nach meinem Vater zu fragen; auch zu sagen, dass wir nicht kommunizieren könnten, wenn sie sich nicht ebenfalls ein Handy zulege, und dass ich einen Ort gefunden habe, an dem ich wenigstens SMS -Botschaften empfangen könne. Ich hütete mich davor, ihn zu verraten.
Sie berichtete, meinem Vater gehe es unverändert, also schlecht, aber auch nicht schlechter als vorher. Die Behandlung habe gerade erst begonnen, und man müsse abwarten. Diese Krankheit entwickle sich im Verborgenen, manchmal sogar über Jahre hinweg. Ein langer Kampf liege vor uns, aber mein Vater sei stark.
»Du weißt doch, wie stark dein Vater ist, oder? Wie dickköpfig er ist.«
»Klar weiß ich das.«
Großvater war nach oben gegangen, wahrscheinlich auf sein Zimmer. Meine Mutter schwieg. Sie spülte die Tassen ab, leerte das Teesieb und polierte alles mit einem Lappen.
»Bleibst du zum Abendessen?«
»Ja.«
»Bleibst du über Nacht?«
Sie sah unschlüssig aus dem Fenster.
»Bitte!«, sagte ich. »Du kannst bei mir schlafen.«
Sie lächelte. Es war schon eine Weile her, dass ich sie hatte lächeln sehen. »Bis es so weit ist, mache ich uns was zu essen, und dann sehen wir weiter.«
Während sie das Essen zubereitete, streckte ich mich auf dem Sofa aus und blätterte in Gon , einem Manga, das ich von zu Hause mitgenommen hatte. Eine Stunde später erfüllte der Duft nach geröstetem Brot, Eiern und Speck das Haus. Und so kam es, dass meine Mutter, mein Großvater – ich hatte an seine Tür geklopft, um ihm zu sagen, dass das Essen fertig sei – und ich kurz nach Sonnenuntergang zum ersten Mal in unserem Leben zu dritt um einen Tisch saßen.
Mich überkam so etwas wie Demut, wenn auch eine voller Widersprüche. Ich bin nicht wirklich religiös, aber an diesem Abend erschienen mir die Eier auf dem Teller, der Geschmack von Speck, Brot, Wein und Käse mit Kastanienhonig auf der Zunge sowie die Wärme aus dem Ofen wie ein stillschweigendes Gebet, wie ein stummes Loblied auf die unverhofften Freuden des Lebens, auf das, woran man früher oder später den Glauben verliert.
Meine Mutter blieb über Nacht. Am nächsten Morgen ging ich mit ihr ins Dorf. Dort fanden wir einen Signore, der uns mit dem Kanu auf den Stausee hinausruderte. Viele Bäume waren beim Fluten des Sees überschwemmt und gefällt worden, andere standen jetzt so nah am Ufer, dass sie direkt aus dem Wasser zu wachsen schienen. Es war seltsam, in einem Kanu zu sitzen, unter den verschlungenen Zweigen einer Pflanze hindurchzufahren, unweit von Baumstämmen zu rasten, ihre raue, durch Unwetter zerfurchte Rinde zu berühren und sich unter dem dünnen Geflecht aus Blättern und Zweigen zu verstecken. »Damit wir den Berg sehen können, ohne von ihm gesehen zu werden«, wie unser Begleiter so schön sagte.
Wir sprachen über Genua.
»Wir könnten
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