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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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Er hatte ein Plektrum in der Rechten und unsichtbare Saiten unter der Linken. Er unterbrach seine Darbietung, um mir einen kurzen Blick voller Verachtung und Mitleid zuzuwerfen. Anschließend ließ er sich erneut von der Musik mitreißen. Ich versuchte, mir mein T-Shirt wieder anzuziehen, aber es war zu nass, und ich beschloss, es zu lassen. Mir fiel auf, dass mein Rucksack mit der Taschenlampe und dem Seil fehlte. Er musste noch am Seeufer liegen.
    »Ich gehe jetzt«, sagte ich zu Isacco.
    Er machte eine geistesabwesende Geste, unterbrach kurz sein Spiel.
    »Und danke noch mal!«, sagte ich.
    Keine Reaktion.
    Der Himmel hatte sämtliche Schleusen geöffnet. Es regnete in Strömen, aber das Gewitter war vorbei. Ich lief zum See hinunter, um den Rucksack zu holen, und obwohl ich in Haut und Knochen ein spitzes Stechen spürte, konnte ich es nicht lassen, nach einer Spur von dem Mädchen Ausschau zu halten. Doch das Haarband war verschwunden.
    Ich schlich mich ins Haus, weil ich in meinem Zustand nicht gesehen werden wollte. Alles war ruhig, bis auf das vertraute metallische Prasseln aus dem Keller. Ich hatte Glück: Großvater war unten und arbeitete.
    Ich wurde nicht krank, fühlte mich aber mehrere Tage vollkommen kraftlos. Ich war ein Kryptonier, in dessen Zimmer jemand einen Splitter grünes Kryptonit versteckt hatte. Das reichte zwar nicht, um mich umzubringen oder mein Gewebe zu zerstören, bewirkte aber, dass ich morgens wie zerschlagen aufwachte und mir sämtliche Knochen wehtaten.
    Das Wetter blieb launisch, genau wie ich. Auf einen halben Tag Sonne und Sorglosigkeit folgten in unregelmäßigen Abständen drei, vier Stunden lang Regen und Schwermut. Großvater ertrug mich ungeduldig. In jenem Sommer hatte ich ständig das Gefühl zu stören, seine Pläne zu durchkreuzen, auch wenn ich mich fragte, welche Pläne das sein sollten. Schließlich kreiste er nur um sich selbst, in einer Art Endlosschlaufe, begleitet von Naturlauten, starren Ritualen und plötzlichem Schweigen. Morgens stand er stets vor mir auf und war nur selten da, wenn ich zum Frühstück herunterkam. Kurz darauf sah ich ihn zurückkehren, oft war er einkaufen gewesen: Fleisch. Brot. Die Milch brachte ihm Cesco, der Typ mit dem Käse. Er war der Einzige, mit dem ich Großvater je reden hörte. Sonst besuchte ihn niemand. Manchmal blieb er auch länger weg, keine Ahnung, wohin er dann ging, doch den Großteil des Tages verbrachte er im Haus. Manchmal ertappte ich ihn bei einem Nickerchen auf seiner Bank, aufrecht sitzend, ein Buch im Schoß.
    Eines Tages fiel ihm das Buch aus der Hand. Ich hob es auf und befreite es von den Ameisen. Es handelte sich um einen Kurzgeschichtenband von Hemingway, eine alte, zerlesene Ausgabe. Die Seiten waren vergilbt und spröde, so als wären sie schon oft nass geworden und wieder getrocknet.
    Abends pflegte er nach einem frugalen Mahl hinaus in die Ferne zu starren, die Meerschaumpfeife fest in der Hand. Dann setzte ich mich neben ihn, um ein Licht in seinen Augen aufglimmen zu sehen, in denen sich eine Geschichte zu spiegeln schien, die auch die meine war. Ich versuchte, mich in ihm wiederzufinden, in seinen Falten, seinen Gesten, seinen Fingernägeln und seinem Geruch, meist jedoch vergeblich. Aber sein Blick war weiß Gott der meine: Ich hätte den Ausdruck darin unter Tausenden wiedererkannt. Nur die Blickrichtung war eine andere: Ich verlor mich in der Zukunft, er in der Vergangenheit.
    Die nahtlos ineinander übergehenden restlichen Juliwochen wurden nicht nur von meinen Erkundungstouren, sondern auch von zwei Besuchen meiner Mutter unterbrochen. Was den Gesundheitszustand meines Vaters betraf, blieb sie vage, ließ aber Hoffnung durchschimmern. Gleichzeitig waren die täglichen Anstrengungen nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Das sah man an ihrem Gesicht, daran, dass sie abgenommen und ihre aufrechte Haltung verloren hatte. Wenn sie wieder fuhr, hinterließ sie nichts als Leere.
    Und so lief ich Abend für Abend mit dem Handy in der Hand zum Monticello und wartete auf Neuigkeiten. Es kam vor, dass mein Vater mir am Nachmittag, am Morgen, ja sogar in der Nacht schrieb. Er erzählte Anekdoten über Krankenschwestern und Ärzte. Ihm gingen die Haare aus, weshalb meine Mutter ihn kahl rasiert hatte.
    Ich sehe aus wie Charlie Brown.
    Die Desserts in der Klinik waren grauenhaft, alles schmeckte gleich, sei es nun Strudel, Tiramisu oder Pudding. Er schrieb mir, sooft er konnte, und die Botschaften erwarteten

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