Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
Also riss ich es herunter wie ein Pflaster. Versuchte, meine Schuhe abzustreifen, hatte aber keine mehr. Ich war barfuß. Wann hatte ich sie verloren? Die Decke war warm. Langsam kam ich wieder zu mir, nahm meine Umgebung, meine Muskeln wahr. Begriff, was geschehen war, was mit mir geschah. Der Ort, an dem ich mich befand, eher ein Lagerraum als ein Wohnraum, bot sich mir in allen seinen Farben dar: braune Regale und Kisten. Eine Gewölbedecke, in deren Mitte eine nackte Glühbirne baumelte, die ein gelbes, warmes Licht verströmte. Ein grüner Teppichrest, der von Sessel- und Tischfüßen beschwert wurde. Zigarettenqualm.
»Würdest du mir bitte verraten, was in dich gefahren ist?«
Der Junge mit dem Basketball legte das Feuerzeug weg. Er hatte seine Sachen ausgezogen und rubbelte sich den Oberkörper mit einer Decke wie der meinen ab, die ebenfalls kratzig, alt und voller Flöhe war. Aber für mich war es in diesem Moment eine Kaschmirdecke. Auf dem Teppich der Basketball, ein CD -Player, zig CD -Hüllen, ein Glas mit einer goldbraunen Flüssigkeit, eine Flasche, ein paar Zeitschriften, ein Aschenbecher voller Zigarettenstummel und alles Mögliche, davon aber jede Menge.
»Also?«
Ich zog einen Zipfel der Decke über meine Füße. »Was also?«
»Himmelherrgott noch mal, am liebsten würde ich dich gleich wieder ins Wasser werfen!«
»Dort, wo das Mädchen ertrunken ist?«
»Welches Mädchen?«
»Das Mädchen, das mit dem Haarband.«
»Jetzt hör mir mal gut zu: Beruhige dich, und geh dann zum Schweiger, soll er sich doch um dich kümmern!« Er wrang sein T-Shirt aus und hängte es an einen Haken. »In dieses Dorf verirren sich nur Verrückte.«
»Da war ein Mädchen, ehrlich. Ich dachte …«
»Du dachtest was?«
»Sie wäre beinahe ertrunken. Ich habe das Haarband gesehen …«
»Du wärst beinahe ertrunken.«
Ich ließ mich nach hinten fallen. Langsam wurde mir wärmer. Noch nie hatte mir mein Vater so sehr gefehlt wie jetzt. Er hätte bestimmt eine Erklärung gehabt. Mein Vater hatte für alles eine Erklärung.
»Trink!« In einem Glas befanden sich zwei Fingerbreit einer Flüssigkeit, die aussah wie Tee. Die testosteronlastige Stimme des Jungen erfüllte den ganzen Raum.
»Wie heißt du?«, fragte ich.
»Isacco.«
Ich riss die Augen auf. »Isacco?«
»Trink!«
»Ist das dein Ernst?«
»Trink!«
Ich nahm das Glas. Er kehrte mir den Rücken zu und hängte sich an eine Eisenstange, die quer durch den Raum verlief. Er machte drei Klimmzüge. Ich führte das Glas zum Mund und schnupperte daran. Alkohol. Ich mag keinen Alkohol, andererseits wollte ich mich vor Isacco – der bestimmt nicht so hieß, denn wer heißt schon Isacco? – nicht noch mehr blamieren. Ich nahm einen kleinen Schluck, nur einen winzig kleinen. Teer rann mir die Kehle hinab und in meinen Magen. Ich fühlte mich, als wäre ich an einen Marterpfahl gefesselt und würde mit Stacheldraht ausgepeitscht. Den Rest spuckte ich in die Decke.
»Ich sterbe.«
»Wenn du bisher nicht gestorben bist«, sagte er keuchend und zog sich erneut hoch, bis sein Kinn die Stange berührte, um sich dann wieder herunterzulassen, »wirst du das auch überleben.«
Mein Magen sandte Hitzewellen aus, die mir zu Kopf stiegen. »Jetzt geht es mir besser.«
»Das habe ich auch nicht anders erwartet«, sagte er. »Trink es ruhig aus.«
»Ich soll das austrinken?«
»Du kannst auch noch mehr haben.«
»Trinkst du das Zeug oft?«
»Manchmal.«
Ich schaute mich um. »Wo sind wir?«
»Im Lager meiner Tante.«
»Wer ist deine Tante?«
»Rosa, die mit dem Laden.«
»Die mit dem Lebensmittelladen?«
»Genau die.«
Neben den Regalen befand sich ein kleines Fenster, genauer gesagt zwischen dem Keks- und dem Reisregal. Ich stand auf, wickelte mich in die Decke und sah hinaus. Es hatte aufgehört zu regnen. Das Lebensmittellager befand sich im letzten Haus des Dorfes, es lag versteckt zwischen den Bäumen unweit des Stausees. Meine Beine zitterten, und mein Kopf war seltsam leicht.
»Wie spät ist es?«
»Warum?«
»Ich muss nach Hause. Großvater weiß nicht, wo ich bin.«
Isacco machte sich an seinem CD -Player zu schaffen. »Wo sollst du schon sein?«, fragte er. Aus zwei kleinen Lautsprechern drang ein langes, wildes Gitarrensolo. »Ach so, stimmt, du bist ja im See ertrunken.«
Ich fasste mir an die Stirn. »Ich glaube, ich habe Fieber.«
»Hör dir das mal an: Angus Young.«
»Kenne ich nicht.«
Isacco beugte sich über eine Luftgitarre.
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