Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
mich bei Sonnenuntergang in der gesunden Luft des Monticello: Heidekraut- und Ginsterduft. Der Schrei des Schlangenadlers. Spinnen und Eidechsen zwischen den Felsen. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Also ließ ich den Blick schweifen, und wenn er sich vollgesogen hatte, verdichtete ich ihn zu einem Satz à la »Werd bald wieder gesund, alligator «. Ein banaler Wunsch, das schon, aber wenn ich ihn in diesem Moment hinschrieb, war es nicht so, als schriebe ich »Werd bald wieder gesund, alligator « und sähe dabei fern oder schnitte mir die Fußnägel. Stattdessen war es ein »Werd bald wieder gesund, alligator « von unerreichter Schönheit. Ein therapeutisches »Werd bald wieder gesund«. Ein allumfassender Alligator.
Ich musste an die Episode unter der Dusche denken: Damals spülte ich mir gerade Shampoo aus den Haaren, doch aus irgendeinem Grund wollten sie einfach nicht aufhören zu schäumen. Ich hatte die Augen geschlossen, damit es nicht hineinlief und brannte. Ich wusch und wusch, aber es schäumte immer weiter. Als ich endlich aus der Dusche trat und ein Auge öffnete, sah ich, wie mein Vater mit dem Shampoo vor mir stand; er hatte es mir heimlich über die Haare gegossen. Ich musste an die Hochzeit denken, auf der ich dem Trauzeugen den Ehering geklaut hatte. Als alle völlig verzweifelt waren, war ich auf den Plan getreten und hatte behauptet, ihn im Kies des Kirchplatzes gefunden zu haben. Ich war der Held, die Leute klopften mir anerkennend auf die Schulter und stießen beim Mittagessen auf mich an. Der Schwager des Bräutigams machte mir sogar vier Jahre hintereinander Weihnachtsgeschenke. Ich musste an das Boot und den Barsch denken. An seine Hände auf meinem Kopf, damit ich besser einschlafen konnte. An das Holzpodest in der Garage, das er für mich gebaut hatte, damit ich ein altes, verdrecktes Kanadierzelt darauf aufschlagen und so tun konnte, als hätte ich ein Baumhaus, denn in unserem Innenhof gab es leider keine Bäume.
An all das dachte ich.
Und trat anschließend den Heimweg an, um rechtzeitig zum Abendessen bei Großvater zu sein.
Eines Tages lag ich auf dem Boden und zeichnete gerade den Kampf von Magneto gegen Silver Surfer, als ich Isacco hinter der Kurve auftauchen sah. Er war gerannt, blieb keuchend und mit hochrotem Kopf vor mir stehen, beugte sich anschließend vor und stützte sich auf die Oberschenkel, um Atem zu schöpfen. Es war ein heißer Tag, ein extrem heißer Tag.
Als er wieder Luft bekam, sagte er: »Ich habe dein Mädchen gesehen.«
»Im Ernst?«
»Ich glaube schon. Es ist auf jeden Fall ein Mädchen, und ich habe sie hier noch nie zuvor gesehen.«
Ich sprang auf. »Wo?«
Er rannte wieder los, und ich konnte nur mühsam mit ihm Schritt halten.
Wir blieben vor einem zweistöckigen, noch ziemlich neuen Haus stehen. Es hatte ein schwarzes Gittertor, ein großes Fenster, das zwei Drittel des Erdgeschosses einnahm, einen Laubengang aus roten Ziegeln, Rosen- und Ginsterbüsche im Garten und eine große Kastanie auf der Rückseite. Mir stand der Schweiß auf der Stirn, und mein Atem ging pfeifend.
Isacco gab mir ein Zeichen, ihm zu folgen. Wir liefen einmal um den Gartenzaun herum, schlichen geduckt am Rosengarten vorbei und gingen in die Hocke, um zwischen den Gitterstäben hindurchzuspähen.
»Da ist sie!«, flüsterte er aufgeregt und zeigte auf sie.
Ein Mädchen war aus der Tür getreten, die wahrscheinlich zum Keller führte. Sie hielt eine große Plastikgießkanne in der Hand, ging zum Wasserhahn an der Hauswand, stellte die Kanne darunter und füllte sie langsam. Sie hatte das blondeste Haar, das ich je gesehen habe. Es fiel ihr lang und offen auf den Rücken; die Sonne fing sich darin und verlieh ihr eine Art Heiligenschein, der einen fast blendete. Sie trug einen lila Pulli, eine dünne Hose und war barfuß. Eine so außergewöhnliche Erscheinung hatte ich noch nie zu Gesicht bekommen. Aber es war eindeutig nicht das Mädchen vom See.
»Und?«
»Das ist sie nicht.«
»Das ist sie nicht?«
»Das Mädchen vom See hat kurze schwarze Haare.«
»Vielleicht hat sie sie gefärbt.«
»Und sie dann wieder wachsen lassen?«
Isacco verzog genervt das Gesicht, so als wollte er sagen: »Warum nicht?«
»Erzähl keinen Scheiß!« Ich versetzte ihm einen Stoß. Unsere Stimmen waren kaum mehr als ein Flüstern, das vom Wassergeprassel in der Gießkanne übertönt wurde. Es muss an dem Wassergeprassel oder aber an ihrem leuchtend blonden Haar
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