Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
gelegen haben, dass wir den Hund übersahen. Wir hockten da und hielten uns am Zaun fest, als wie aus dem Nichts ein Schnauzer auftauchte. So als hätte er sich einen Tunnel zu uns gegraben oder wäre auf dem Bauch den Zaun entlanggerobbt. Knurrend streckte er die Schnauze zwischen den Gitterstäben hindurch, während ihm der Sabber aus dem Maul troff. Hätten wir uns nicht mit der Geistesgegenwart eines Kanoniers auf den Rücken geworfen, hätte einer von uns bestimmt eine Wange oder ein Auge eingebüßt und wäre für immer entstellt gewesen.
Isacco griff instinktiv nach einer Handvoll Erde und schleuderte sie in Richtung des Tiers.
»Scheißhund!«, rief er.
»Was macht ihr da mit Raissa?« Das Mädchen hatte den Wasserhahn zugedreht und kam angerannt.
Raissa (Raissa?) hatte sich winselnd und mit gesenktem Kopf zu ihr umgedreht, suchte zwischen ihren Beinen Schutz und leckte ihr die Waden.
»Was habt ihr mit ihr gemacht?«
»Wir?« Isacco klopfte sich den Staub von der Hose. »Dieses Vieh muss eingeschläfert werden. Das ist ja gestört! Fast hätte es mir die Nase abgebissen!«
»Raissa ist nicht gestört. Sie hat noch nie jemandem etwas zuleide getan.« Sie tröstete den Hund, indem sie langsam über sein langes Fell strich. Und er sah aus, als hätte er nur darauf gewartet, ja als hätte er das nur getan, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
»Aber wenn ich es dir doch sage!«, beharrte Isacco, der merkte, dass er am Ellbogen blutete. »Man sollte die Polizei verständigen. Oder das Forstamt.«
»Raissa, ab ins Haus!«, befahl das Mädchen. »Los, rein!« Der Schnauzer drehte sich folgsam um und verschwand hinter den Blumentöpfen. Sie wandte sich erneut uns zu, wobei sie die Hände in die Hüften stemmte. »Wenn ihr Raissa irgendetwas tut, mache ich euch fertig, verstanden?«
»Dann komm doch raus!«, erwiderte Isacco mit geschwellter Brust und krempelte sich die T-Shirt-Ärmel hoch. »Ich warte auf dich. Los, komm!«
»Das ist doch ein Mädchen!«, rief ich mit weit aufgerissenen Augen.
»Na und?«, sagte Isacco.
»Was willst du denn damit sagen?«, ereiferte sie sich und wandte sich erstmals an mich.
»Na ja, äh …«, stammelte ich. »Ich meine ja nur …«
»Dass ich ein Mädchen bin, heißt noch lange nicht, dass ich euch keinen Tritt in die Eier geben kann!«
»So hab ich das nicht gemeint.«
»Sondern?«
»Hör nicht auf sie!«, sagte Isacco und zerrte an meinem Arm. »Komm mit! Die spielt sich doch bloß auf und wird den Garten sowieso nicht verlassen. Und ich gehe da bestimmt nicht rein, um mir von ihrem Köter die Eier abreißen zu lassen.« Er zeigte ihr den Stinkefinger und funkelte sie böse an, mit Augen, schwarz wie Korinthen.
Sie blieb völlig unbeeindruckt und fragte: »Wartet ihr einen Moment?« Sie sagte es dermaßen höflich, dass ich mich fragte, mit wem sie da eigentlich sprach. Deshalb drehte ich mich um, um herauszufinden, ob hinter uns noch jemand stand. Aber da war niemand. Das Mädchen nahm die randvolle Gießkanne, hievte sie am Griff mühsam hoch und trug sie zum Zaun. In diesem Moment gab ich Isacco instinktiv recht und dachte, dieses Mädchen ist wirklich nicht ganz richtig im Kopf. Denn wer erst auf uns losgeht, uns beleidigt, ja sich fast mit uns prügelt, nur um dann seelenruhig Rosen und Lorbeeren zu gießen … Aber ich hatte meinen Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als das Mädchen mit beiden Händen die Gießkanne hochhob und ihren Inhalt mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung des Oberkörpers über uns ausschüttete. Das kam dermaßen unerwartet, dass sich keiner von uns vom Fleck rührte. Wir brauchten einen Moment, bis wir begriffen, was geschehen war.
»Was soll der Scheiß?«, lauteten Isaccos erste Worte.
Aber bis wir uns wieder gefasst hatten, war sie längst im Haus verschwunden. Wir hörten, wie sie ungerührt nach jemandem rief. Der Hund bellte.
Ich ging mich umziehen und blieb den Nachmittag über auf meinem Zimmer, während das Fenster offen stand und der Wind über meinen Körper strich, bis Großvater mich zum Essen holte. Auf dem Bett liegend und mit Blick auf den Kleiderschrank wiederholte ich Isaccos Worte »Was soll der Scheiß« wie ein Mantra, wenn auch mit einer ganz anderen Bedeutung.
Ich beschloss, mich am nächsten Tag bei ihr zu entschuldigen. Ich wollte ihr erklären, dass wir sie verwechselt und ihr nicht hinterherspioniert hätten.
An diesem Abend belastete mich die klösterliche Stille beim Abendessen nicht im
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