Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
Staudamm.«
»Behalt das Wetter im Auge!«
»Das Wetter?«
»Es scheint umzuschlagen«, erwiderte der mit der Zeitung.
»Es soll regnen«, sagte der Zweite.
»Und nicht nur das: Es soll schütten wie aus Gießkannen!«, bemerkte der Dritte und sah zum Himmel empor. »Wir haben schon seit Jahren keinen so verregneten Sommer mehr gehabt. So viel hat es nur 1972 geregnet.«
»Das war 79«, sagte der mit der Zeitung.
»Nein, 72!«
»Aber wenn ich es dir doch sage: 79.«
»72!«
»79.«
»Ich gehe jetzt«, sagte ich. »Ich werde die Wolken beobachten.«
Ihre Stimmen waren soeben verklungen, und ich war gerade um die Kurve gebogen, von der aus der Weg unter den Steineichen zum Staudamm führte, als ich einen Blick auf den See warf und hinter einem Mastixstrauch das Mädchen entdeckte. Das Mädchen vom ersten Tag, das noch immer sein blaues Kleid trug. Sie stand reglos im Wasser. Nein, nicht reglos: Mit einem Stock oder Zweig – genau ließ sich das nicht sagen, weil ich noch so weit weg war –, zog sie Linien in die graue Wasseroberfläche des Stausees. Sie sah aus, als zeichnete sie, ging dabei mit winzigen Schritten immer tiefer hinein. Der Saum ihres Kleides berührte das Wasser, breitete sich auf den sich kräuselnden Wellen aus, die der Wind verursacht hatte und die sie mit ihren Fingerspitzen liebkoste.
Hals über Kopf stürzte ich den Weg hinunter. Mein Rucksack hüpfte auf meinem Rücken auf und ab. Wenn man die Hauptstraße verließ, konnte man den Staudamm nicht mehr sehen, erkannte nur noch Baumstämme und Gebüsch bis zum Ufer. Keine Ahnung, wie lange ich brauchte – vielleicht fünf Minuten. Ich rannte schnell, so schnell es der unebene Boden zuließ. Aber als ich die Macchia genau dort verließ, wo ich das Mädchen in den See hatte gehen sehen, war es verschwunden.
Ich schaute mich um. Wo war sie geblieben? Neben meinen Füßen lag ein nasser Zweig, vermutlich der, mit dem sie etwas aufs Wasser geschrieben hatte. Ich hob ihn auf und betrachtete ihn genauer, als wäre er ein Zauberstab, der noch Funken sprüht. Aber mehr oder weniger gleichzeitig entdeckte ich ein weißes Haarband, das drei, vier Meter vom Ufer entfernt dahintrieb. Der Himmel war jetzt bewölkt, und hin und wieder fielen ein paar Tropfen.
Was, wenn sie ins Wasser gefallen ist?, dachte ich.
Ich versuchte, so etwas wie »He, ist da jemand? He, alles gut?« zu rufen. Dann beschloss ich, das weiße Haarband zu holen: Das war real, das war der Beweis, dass ich nicht träumte, dass es das Mädchen wirklich gab. Ich ließ den Rucksack fallen, behielt aber die Schuhe an, weil ich nicht wusste, was meine nackten Füße berühren würden, und auch mein T-Shirt, weil ich hoffte, nicht ganz untertauchen zu müssen. Das Wasser war eisig. Ich biss die Zähne zusammen, spannte die Bauchmuskeln an und streckte den Arm so weit wie möglich aus – so wie es Reed Richards getan hätte. Beinahe hätte ich das Stück Stoff zwischen Zeige- und Mittelfinger zu fassen bekommen, als plötzlich der Boden unter meinen Füßen verschwand und ich jeden Halt verlor.
Stille und Eiseskälte fielen in eins, nahmen mich gemeinsam in den Klammergriff. Ich kriegte nicht nur keine Luft, sondern hatte auch keine Kraft, keinen Orientierungssinn und keine Muskelkontrolle mehr. Dieser Schock gipfelte in einem verzweifelten Schrei, der sich, weil es mir die Sprache verschlug, in meinen Knochen kristallisierte. Er fuhr mir in die Glieder, aber ich konnte mich nicht rühren. Ich krallte meine Nägel ins Wasser. Verzweifelt strampelnd kam ich kurz wieder an die Oberfläche. Ich versuchte, mich über Wasser zu halten, ging aber wieder unter. Und dann noch einmal. Ich bin dem Tod nie mehr so nah gewesen wie damals.
»Was, zum Teufel, tust du da?«
Es war eine Männerstimme, der See sprach mit mir. Ich spürte, wie jemand mich packte und hochzog. Als Nächstes spürte ich wieder schlammigen Grund unter den Füßen, meine Hände berührten den Boden. Ich war wie gelähmt.
»Halt dich fest!«
Woran?
»Halt dich fest!«
Ich hielt mich fest.
Ich fand eine Hand, einen Arm, Schultern. Der See war an meinen Knöcheln hängen geblieben, ich zog ihn hinter mir her. Ich erkannte den Uferweg, roch brennendes Holz, Regen.
»Bleib stehen, nicht hinfallen, verdammt!«
Wir liefen mehrere Meter.
»Komm rein.«
Ich ließ mich auf eine Pritsche fallen, hüllte mich verwirrt in eine kratzige Decke. Versuchte, mir das nasse T-Shirt auszuziehen, doch es klebte an meinem Rücken.
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