Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
ist taub. Aber trotz seiner Taubheit spürt er den Unterschied zwischen den Alltagsgeräuschen und der Stille der Nacht.« Er machte eine Geste, als hielte er sich die Ohren zu.
»Na ganz toll!«, sagte ich so gelangweilt wie möglich.
»Diese Kurzgeschichten handeln vom Leben.«
»Aha.«
»Willst du sie lesen?«
»Ich lese lieber noch mal meinen Gon .«
»Das wird dir nicht guttun«, sagte er.
»Hast du vielleicht einen besseren Vorschlag?«
In diesem Moment blitzte es. Ich zählte die Sekunden bis zum Donner, weil mir mal ein Fischer erzählt hatte, dass man die Sekunden dazwischen mit dreihundertvierzig multiplizieren muss, um zu wissen, wie weit das Gewitter noch entfernt ist. Ich schaffte es nicht, bis drei zu zählen, als es krachte und ich vor Schreck die Schultern bis zu den Ohren hochzog. Großvater tat so, als hätte er nichts gehört.
»Und?«, fragte ich.
Er hob den Kopf, als wollte er sagen: »Was und?«
»Hast du einen besseren Vorschlag?«
»Ach, vergiss es!« Er klappte das Buch zu und warf es aufs Bett. »Geh nach unten. Schau aus dem Fenster. Zeichne auf die beschlagenen Scheiben. Mach, was du willst!«
Auf die beschlagenen Scheiben zeichnen war gar keine so schlechte Idee, aber noch lieber schaute ich mir die Schallplatten an, betrachtete die Illustrationen auf den Hüllen und legte hin und wieder eine auf, damit ich verstand, worum es sich handelte.
Auch die Temperaturen waren gesunken, Großvater kam sogar, um den Ofen einzuheizen.
»Behalt ihn im Auge!«, befahl er. »Wenn du siehst, dass er ausgeht, erhöh die Luftzufuhr. Kannst du das?«
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie man das macht, sagte aber: »Klar.«
Doch der Ofen funktionierte tadellos, und ich musste nicht das Geringste tun, außer auf dem Sofa sitzen und die Flammen bewundern, die lebendig gewordenen Schatten im Raum. Es wurde Nacht. Ich wickelte mich in eine Decke. Unter den Büchern hatte ich schließlich doch noch einen Science-Fiction-Roman entdeckt, der mich beim Durchblättern neugierig gemacht hatte. Nicht zuletzt, weil es darin ständig regnete und mich der Titel Träumen Androiden von elektrischen Schafen? an Nathan Never erinnerte ( Blade Runner hatte ich damals noch nicht gesehen.)
Ich schlief ein.
Es geschah in der dritten Gewitternacht oder so. Wir hatten weder Fernsehen noch Radio, waren vollkommen isoliert von der Außenwelt und wussten nicht, dass der Regen überall im Hinterland große Schäden angerichtet hatte. Im Nachbartal war ein Mann sogar im Hochwasser des Wildbachs ertrunken, als er beim Gassigehen mit seinem Hund vom Unwetter überrascht wurde. Der Hund hatte sich retten können, indem er auf einen Felsen gesprungen war, und wie ich später herausfand, hatten alle Zeitungen sein Foto gebracht. Ich schlief gerade tief und fest, als mich ein lauter Knall aus dem Schlaf riss. Er war ganz nah, klang seltsam und bildete ein ständiges Hintergrundgeräusch. Ich erhob mich vom Sofa. Es hörte sich an, als käme das Getöse aus dem Keller. Aber den durfte ich nicht betreten. Ich ging zur Tür und öffnete sie einen Spaltbreit. In der neuen und unerwarteten Duftmischung – denn es roch nicht mehr nur nach Käse – waren Erde, Felsstaub und Fluss enthalten.
Ich hastete die Treppe hinauf und klopfte an Großvaters Tür.
»Was ist?«
»Der Keller!«, rief ich. »Es ist was passiert.«
Ich hörte, wie das Bett quietschte, und auch, dass er Licht machte und mit den Füßen nach seinen Pantoffeln suchte. Im Schlafanzug trat er auf den Flur hinaus. »Was ist mit dem Keller?«
»Keine Ahnung. Ich habe ihn nicht betreten. Aber da war so ein Geräusch, und …«
»Gehen wir.«
Ich folgte ihm. Er öffnete die Tür und betätigte den Schalter, woraufhin die einzige Lampe am Kopf der Treppe anging. Unten blieb es dunkel.
»Soll ich die Taschenlampe holen?«, fragte ich.
»Ja.«
Eine Sekunde später war ich wieder da.
»Leuchte uns den Weg aus.«
»Riechst du das?«, fragte ich.
»Was?«
»Diesen Geruch.«
Er antwortete nicht, schnupperte aber einmal und dann noch einmal. Unten angekommen, richtete ich den Lichtkegel auf die linke Wand. Alles war noch an seinem Platz: die Stellagen mit den Käselaiben, eine Holzkiste mit Werkzeug, das unter dem Deckel hervorragte, zwei Klappstühle … und so ein Dunst knapp über dem Boden. Ich richtete den Lichtkegel darauf, nichts. Ich wollte ihn schon nach rechts schwenken, als Großvater mir die Taschenlampe aus der Hand riss und sie Richtung Boden
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