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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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Gesicht.
    »Was ist?«, fragt Gabriele.
    »Das mit deinem Ball tut mir leid.«
    »Das ist doch nur ein blöder Ball!«, sagt er. »Davon gibt es mehr als genug.«
    *
    In der Schule werde ich versetzt. Zwei Tage später nehme ich mit meiner Mutter einen Zug nach Turin. Dort steigen wir in einen kleineren, etwas ramponierten Zug um, den wir in Ivrea verlassen. Die Berggipfel sind noch schneebedeckt, die Wiesen leuchtend grün, und die Luft ist frisch und klar: Ich fühle mich wohl.
    Wir steigen in einem Hotel am Bahnhof ab. Seit wir damals in Madame Fleurs Pension gewohnt haben, bin ich in keinem Hotel mehr gewesen. Das Zimmer ist klein, aber sauber. Wir essen bei Bekannten zu Abend, bei den Ramellas. Das ältere Ehepaar lebt in einer dunklen Wohnung voller Nippes, Gemälde und Holzfiguren. Sie ist so vollgestopft, dass man die Wände nicht mehr sehen kann. Signora Ramella ist auch diejenige, die Kontakte zur Firma und zur Schulleitung hat.
    »Ich werde ein gutes Wort für dich einlegen«, sagt sie. »Aber nach dem, was deine Mutter mir erzählt hat, wird das gar nicht nötig sein. Stimmt es, dass du gern mit den Händen arbeitest?«
    »Ich mag es, wenn Dinge sich verändern.«
    »Hier verändert sich alles. Viel zu schnell sogar.«
    »Was muss ich dort machen?«, frage ich.
    »Eine Aufnahmeprüfung. Soweit ich weiß, kommt es vor allem auf Neugier und Neigung an.«
    »Auf Neigung?«
    »Du sollst dich zu diesem Arbeitsumfeld, zu dieser Arbeit hingezogen fühlen. Was du jetzt noch nicht weißt, lernst du dort.«
    Am Tag darauf stehen wir in aller Herrgottsfrühe auf. Ich ziehe mein bestes Hemd und die leichte Baumwolljacke an, poliere meine Schuhe. Wir brauchen zwanzig Minuten, um Schule und Firma zu finden. Wir fragen einen Postboten, der sie uns zeigt. Die Gebäude sind riesig.
    An der Aufnahmeprüfung nehmen etwa hundert Bewerber aus ganz Italien teil. Den Vor- und Nachmittag verbringen wir mit Schreiben, Zeichnen und Rechnen. Wir hören einen Vortrag, besichtigen die Werkstätten und stellen Fragen, die geduldig beantwortet werden.
    Als wir am Ende des Tages zum Bahnhof gehen, fragt unsere Mutter: »Na, wie ist es gelaufen?«
    »Keine Ahnung.«
    »Aber was hast du für ein Gefühl? Glaubst du, die nehmen dich?«
    »Es gab eine Menge Bewerber. Viele waren besser als ich.«
    Die Reise über schweigen wir, die Sonne geht unter. Wir machen bei Verwandten in Turin Station. Am Tag darauf fahren wir beide erschöpft und nervös nach Genua zurück und von dort zu Gabriele und Großvater aufs Land.
    »Wann bekommst du die Ergebnisse?«, fragt Gabriele.
    »Keine Ahnung.«
    »Wieso weißt du das nicht?«
    »Das hat man uns nicht gesagt.«
    »Und du hast nicht danach gefragt?«
    »Nein.«
    Von diesem Tag an geht unsere Mutter täglich hinaus auf die Straße, um den Postboten abzupassen. Kommt er, bevor sie unten ist, und sie hört ihn im Treppenhaus rumoren, reißt sie die Tür auf und rennt in Holzpantinen die Treppe hinunter. Der Brief mit den Prüfungsergebnissen trifft Anfang Juli ein. Zwei Bewerber wurden genommen, zwei von hundert. Und einer davon bin ich.
    *
    Wir verbringen den Sommer auf dem Land. Gabriele sitzt den ganzen Tag in einem alten Schaukelstuhl und liest. Ich schlage irgendwie die Zeit tot. Manchmal strecke ich mich auf einem Felsen aus, auf einem großen Felsblock, der mitten im Gemüsegarten aufragt und den nie jemand weggeräumt hat. Ich strecke mich darauf aus und bleibe Stunden dort liegen. Ich denke an nichts, sehe den Wolken nach, den Tauben und Raben, die vorbeifliegen. Gabriele und ich bauen einen Bogen.
    Anfang September begleiten mich Gabriele und unsere Mutter bei Nieselregen zum Bahnhof. Wir verabschieden uns vor dem Trittbrett des Waggons, und als der Zug losfährt, beuge ich mich vor. Unsere Mutter weint, ich nicht. Die Begeisterung ist stärker als Angst und Traurigkeit. Die ganze Fahrt über sehe ich aus dem Fenster: Straßen, Orte, Felder. Ich rede mit niemandem. In dem Fenster, in dem ich mich spiegle, gleitet die Zeit vorüber, und auch die Welt.
    Signora Ramella holt mich ab. Sie hat eine Frau gefunden, die mir ein Zimmer vermietet. Es ist eine Witwe mittleren Alters. Sie zeigt mir den Weg zur Schule und zu ihr nach Hause. »Wenn irgendetwas ist, kommst du zu mir, einverstanden? Ich habe deiner Mutter versprochen, mich um ihren Sohn zu kümmern, und werde dieses Versprechen auch halten.«
    »Vielen Dank.«
    Das Haus der Witwe ist praktisch leer: wenig Möbel, wenig

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