Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
wie unter Gewehrsalven zum Erbeben und das Dach zum Dröhnen und Zittern.
Im Obergeschoss war an Schlafen nicht zu denken, also stellte ich mich darauf ein, die Nacht – oder die Nächte – unten auf dem Sofa zu verbringen. Großvater lief auch weiterhin durch die Gemeinschaftsräume sowie die Kellertreppe hinunter und herauf, als gäbe es mich gar nicht. Aber das längste und heftigste Gewitter seit Menschengedenken, das im Tal von Colle Ferro niederging, schien einfach kein Ende nehmen zu wollen. Deshalb waren Großvater und ich gezwungen, die meiste Zeit im Haus zu verbringen. Was sollten wir bloß tun, und das mehrere Tage und Nächte hintereinander, während draußen die Welt unterging?
Ich las sämtliche Comics, die ich dabeihatte, noch einmal, und erst da fiel mir auf, dass ich mir seit meiner Ankunft gar keine neuen mehr gekauft hatte – nicht zuletzt deshalb, weil es im Dorf keinen richtigen Zeitschriftenladen gab. Als ich mit den Comics durch war, begann ich zu zeichnen: Ich malte ein X-Men-Cover mit Professor Xavier ab, der von Cyclops geschoben wird. Hinter ihnen fügte ich noch eine Mutantin ein, die die Fähigkeit besaß, sich unsichtbar zu machen (und erst als ich damit fertig war, stellte ich fest, dass sie Lunas Züge trug). Ich zeichnete Wolverine, der für mich immer große Ähnlichkeit mit meinem Vater gehabt hat, mit Ausnahme der Knochenklingen aus Adamantium natürlich. Wolverine war genauso impulsiv wie mein Vater, aber eben auch unerschrocken. Doch im Gegensatz zu Logan war mein Vater nie jähzornig oder rauflustig. Seine gesamte Impulsivität drückte sich in Ironie, in Kreativität in der Küche und in der liebevollen Art aus, mit der er sich um mich und meine Mutter kümmerte. Ich zeichnete, was das Zeug hielt, so lange, bis alle meine Bleistifte aufgebraucht waren. Dann ging ich zu Großvater und fragte, ob er noch welche hätte. Er war gerade in seinem Zimmer und mit was weiß ich beschäftigt. Ich blieb in der Tür stehen.
»Bleistifte?«, fragte er, ohne sich umzudrehen.
»Ja.«
»Nein. Ich habe nur Füller.«
»Füller kann man nicht ausradieren.«
»Aber wieder nachfüllen«, sagte er. »Bleistifte nutzen sich ab, werden zu Stummeln, zu Graphitstaub, unbenutzbar.«
Ich wollte schon gehen, als er nach wie vor mit dem Rücken zu mir sagte: »Lies doch ein Buch, wenn dir langweilig ist.«
»Keines von denen, die im Regal stehen, sagt mir was.«
Großvater nahm ein Buch vom Nachttisch und gab es mir. Es war der Band mit Kurzgeschichten von Hemingway, den er immer bei sich trug und ständig wieder von vorne las. »Als ich den geschenkt bekommen habe, war ich kaum älter als du. Das könnte dir gefallen.«
»Du liest immer nur das.«
»Ja.«
»Aber warum liest du es immer wieder von vorn, obwohl du es schon kennst? Das Buch bleibt immer dasselbe.«
»Aber wir nicht. Bücher, die man noch einmal liest, sind anders, weil sich die Menschen, die sie lesen, verändert haben. Glaubst du, diese schwülstigen Abenteuer von Supersoundso werden dich noch genauso beeindrucken, wenn du einmal erwachsen bist?«
»Die werde ich immer lieben!«, entgegnete ich gereizt.
»Das meine ich nicht. Ich habe nicht behauptet, dass sie dir dann nicht mehr gefallen. Aber sie werden dir anders erscheinen. Du wirst etwas anderes darin finden«, erklärte er. »Vielleicht auch gar nichts mehr.«
»Was steht denn da drin?«
»Wo?«
»In dem Buch.«
Großvater nahm es mir aus der Hand und schlug es irgendwo auf – zumindest kam es mir so vor, aber vielleicht konnte er es auch aufgrund seiner täglichen Lektüre auf Anhieb auf einer bestimmten Seite aufschlagen, wenn er es wollte. Oder am Anfang von Hügel wie weiße Elefanten , wenn er danach suchte. Er begann mit einer uralten Stimme zu lesen: »Es war spät, und alle hatten das Café verlassen bis auf einen alten Mann, der in dem Schatten saß, den die Blätter des Baumes vor dem elektrischen Licht warfen. Bei Tag war die Straße staubig, aber nachts lag der Tau auf dem Staub, und der alte Mann saß gern spät hier, denn er war taub, und jetzt in der Nacht war es still, und er spürte den Unterschied.« Er blickte auf und musterte mich, suchte vermutlich nach so etwas wie Ehrfurcht in meiner Miene. Aber ich sah ihn weiterhin ohne jede Regung an. Er stieß eine Art Grunzen aus. »Und jetzt in der Nacht war es still, und er spürte den Unterschied«, las er erneut. Er starrte mich noch einmal über die vergilbten Seiten hinweg an. »Kapiert? Er
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