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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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Essensresten und schmutzigem Geschirr am Tisch und hat die Hände vors Gesicht geschlagen. Rücken und Schultern beben. Gabriele, der im Flur erstarrt ist, ertappt mich dabei, wie ich meine Mutter belausche.
    »Sie weint um unseren Vater«, erkläre ich.
    »Von wegen!«, sagt Gabriele. »Sie weint deinetwegen, wegen deiner Zukunftsaussichten. Du hast wieder eine schlechte Note geschrieben, stimmt’s? In einem Aufsatz. Oder in Geschichte.«
    »Stimmt, ich habe eine schlechte Note geschrieben. Aber sie weint nicht meinetwegen.«
    »Bist du dir sicher? Warum gehst du nicht hin und fragst sie?«
    Mein Herz ist mir in die Hose gerutscht, ich berge es mit den Fingerspitzen und betrete die Küche. Unsere Mutter dreht den Kopf, schnieft und wischt sich mit einem Taschentuch über die Augen.
    »Weinst du meinetwegen?«, frage ich.
    »Nein, Simone, wie kommst du denn darauf?«
    »Weinst du, weil ich so schlecht in der Schule bin?«
    »Ich weine wegen allem, was ich nicht beeinflussen kann.«
    »Nicht du bist für meine schulischen Leistungen zuständig, sondern ich. Bitte verzeih mir, ich verspreche dir, das Schuljahr so gut wie möglich zu beenden.«
    Unsere Mutter lächelt, versucht es zumindest, wenn auch ohne Erfolg. »Und was willst du anschließend machen?«
    Ich antworte nicht. Aber sie scheint gar keine Antwort zu erwarten, denn auf einmal sagt sie ganz begeistert: »Weißt du, ich habe eine Schule gefunden, die einfach ideal für dich wäre. Im Ernst: Sie ist wie für dich gemacht.« Bei diesen Worten richtet sie sich auf. Mir fällt auf, dass sie die Worte dosiert wie Tropfen eines Schlafmittels. Sie zerknüllt das Taschentuch in ihrer Hand und fährt fort: »Die Schule wird von einer Firma finanziert, die anschließend die besten Schüler übernimmt. Es ist eine technische Ausbildung. Man bearbeitet Gegenstände, Materialien und Substanzen – genau das, was dir gefällt, Simone! Aber sie ist eng mit dem Ort verbunden, an dem sie sich befindet – an dem die Firma ihren Sitz hat, meine ich. Deshalb werden pro Jahr nur wenige Schüler von außerhalb aufgenommen. Die anderen sind alles Einheimische oder Kinder von Angestellten. Du müsstest eine Aufnahmeprüfung machen. Aber ich habe Bekannte dort, Freundinnen. Und die wollen ein gutes Wort für dich einlegen, obwohl ich fest davon überzeugt bin, dass du das gar nicht nötig hast. Weil dort nur deine Lieblingsfächer unterrichtet werden, in denen du ausgezeichnete Leistungen bringst. Aber für den Fall, dass, also nur für den Fall, dass …«
    »Wo ist sie?«
    Unsere Mutter atmet tief durch. »Was?«
    »Die Schule. Der Ort.«
    »In Ivrea.«
    »Wo liegt Ivrea?«
    »Im Piemont. In der Nähe des Aostatals. In der Nähe der Berge.«
    »Das ist aber weit weg«, sage ich. »Dann müsste Gabriele die Schule wechseln.«
    »Wir würden nicht mitkommen, Simone.«
    Mir fehlen die Worte, ich bin wie gelähmt. Die Stille lässt die Wände sekundenlang zurückweichen, dann explodiert sie im flehenden Satz unserer Mutter: »Aber mit dem Zug braucht man nicht lange, höchstens fünf, sechs Stunden. Wir werden uns häufig sehen, drei- oder viermal im Jahr. Und den Sommer über. Überleg doch mal, wie toll das wird! Außerdem haben dir die Berge immer gut gefallen. Ihr werdet Ausflüge machen. Du wirst bei irgendjemandem zur Untermiete wohnen. Die Labors und Werkstätten der Schule sollen die besten Europas sein, ja die besten der Welt. Dasselbe gilt für die Maschinen. Na, was sagst du dazu?«
    »Von mir aus.«
    Unsere Mutter steht auf. »Ist das dein Ernst?«
    »Klar.«
    »Du wirst lernen müssen, allein zurechtzukommen. Ich werde dann nicht mehr da sein, um dir alles hinterherzutragen.«
    »Wenn du das für richtig hältst, werde ich mich schon daran gewöhnen.«
    Unsere Mutter umarmt mich, vergräbt die Nase in meinen Haaren.
    Während ich meinen Schlafanzug anziehe, kommt Gabriele mit einem Lederball ins Zimmer und setzt sich auf mein Bett. Er wirft den Ball in die Luft und fängt ihn wieder auf, wirft ihn in die Luft und fängt ihn wieder auf. Auf einmal wirft er ihn mir zu. Ich fange ihn und schleudere ihn heftig zurück. Gabriele weicht aus, der Ball prallt von der Wand ab, fliegt aus dem offenen Fenster und auf die Straße. Als wir aus dem Fenster schauen, können wir ihn nirgendwo entdecken. Es ist schon spät, wir dürfen nicht mehr hinaus. Am nächsten Morgen vor der Schule suchen wir nach ihm, können ihn aber nicht finden. Seltsamerweise laufen mir Tränen übers

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