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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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sah. »Du bist zum Feind übergelaufen.«
    »Ich habe die Angelegenheit geklärt«, beharrte ich.
    »Sie ist im Unrecht und wir im Recht«, sagte er. »Ich finde das eigentlich ziemlich klar.«
    »Warte …«
    »Warte? Wieso warte? Ich warte auf gar nichts.«
    Luna schnalzte mit den Lippen. »Zeno hat mir …«
    »Schnauze!«, sagte Isacco und hielt sich die Ohren zu. »Ich will nichts von dir hören.«
    »He, bist du jetzt völlig durchgeknallt?« Luna versetzte Isacco einen Stoß. »Soll ich dich vielleicht um Entschuldigung bitten? Wie wär’s, wenn wir uns endlich mal normal benehmen? Entschuldige, okay? Ihr habt Raissa nichts getan, und ich hätte euch nicht mit Wasser übergießen sollen, obwohl du dir diese Dusche mit deinem losen Mundwerk wirklich verdient hast. Aber ich hätte das trotzdem nicht tun dürfen.« Sie breitete die Arme aus. »Einverstanden? Können wir jetzt wieder in die wunderbare Welt der Normalbegabten zurückkehren, oder machen wir weiterhin einen auf Helen Keller?«
    »Auf wen?«, fragte ich.
    Ohne sich umzudrehen, erwiderte sie: »Ach nichts, bloß was aus der Schule.«
    »Die versteht man ja nicht, sobald sie den Mund aufmacht«, lautete Isaccos Urteil.
    »Hört mal«, schaltete ich mich ein. »Ich habe eine Idee …«
    »Wenigstens einer, der vernünftig ist«, sagte Luna.
    »Strecken wir die Waffen und gehen baden!«, schlug ich vor.
    Isacco fing den Basketball auf. »Ich habe dich schon einmal vor dem Ertrinken gerettet.«
    »Du willst doch nicht etwa hierbleiben und Körbe werfen? Die Hitze bringt einen fast um!«
    Luna legte den Chupa-Chups-Stiel in einen roten Plastikaschenbecher, der zwischen den Geranien auf der Fensterbank stand. »Ich bin dabei.«
    »Isacco?«
    Isacco machte erst einen Schritt nach rechts, dann einen nach links, simulierte ein Täuschmanöver und warf den Ball dann über die Schulter nach hinten in den Korbring. Er staunte selbst über den Wurf – so sehr, dass er sich stolz umdrehte und uns breit angrinste.
    »Ich geh mir eine Badehose anziehen«, erklärte er.
    Um uns von der Starre zu befreien, die uns in dieser Hitze befallen hatte, begannen wir, die drückendsten Stunden des Tages am See zu verbringen. Umhüllt vom Duft nach Kräutern, Rinde und Erde aus dem Tal sprangen wir ins Wasser, suchten Abkühlung im Schatten der dichten Steineichenkronen und bauten Harzfallen für die Ameisen. Mit unseren T-Shirts fingen wir Heuschrecken und Zikaden und beschossen uns mit Wacholderbeeren, nachdem wir uns Schleudern aus Astgabeln und Gummis gebaut hatten.
    Luna zeigte uns, wie man mit den Fingerspitzen zuerst ins Wasser eintaucht, die Beine gestreckt und den Po unten lässt. Wie man einen Hechtsprung macht, indem man erst den Oberkörper nach vorne nimmt, ohne die Beine vom Boden zu lösen, um dann die untere Körperhälfte zu strecken, wobei Kopf und Schulter unbeweglich bleiben und eine gerade Linie mit dem Rücken bilden.
    Kaum kamen wir aus dem Wasser, waren wir auch schon wieder trocken. Die Haut fühlte sich prall und weich an. Aus dem See steigen und sich unter den Bäumen niederzulassen wurde zu einer Art Reinigungsritual. Nur unsere Stimmen und unser Lachen stoppten den Flug der Vögel. Nur unsere Steine sandten konzentrische Kreise aus. Nur unsere weichen Hände, unsere kindlichen Muskeln suchten den Vergleich mit der rauen Baumrinde, wenn wir gemeinsam um die Wette kletterten: Wer erreichte den höchsten Ast?
    Eines Nachmittags, kurz vor Sonnenuntergang, machten Hunderte wie aus dem Nichts aufgetauchte Marienkäfer bei uns Rast. Wir spielten mit ihnen, bis es dunkel wurde und sie von Glühwürmchen abgelöst wurden.
    In diesen Tagen dachte ich nicht mehr so oft an meinen Vater. Ich war so erschöpft vom vielen Schwimmen, Springen und Herumbalgen mit Luna und Isacco, dass ich nicht mal mehr Lust hatte, auf den Monticello zu gehen, um meine SMS -Botschaften abzurufen. Die Kluft, die sich in dieser Zeitblase zwischen Hitze und Heilungsprozess, zwischen meiner Lebensgier und der Krankheit, dem körperlichen Verfall meines Vaters, auftat, war unübersehbar. Aber als Kind nahm ich sie nicht einmal wahr. Mit zwölf ist das Leben ein einziges Fest.
    Doch irgendwann war es dann so weit: Es begann mit Nieselregen, den der plötzlich aufgefrischte Wind einen ganzen Tag und eine Nacht gegen die Scheiben peitschte. Dann folgten dicke Tropfen, so dick wie Weintrauben. Sie fielen zu Boden und ließen Erde aufspritzen, hinterließen Kuhlen im Gras, brachten die Wände

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