Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
hielt. Einen halben Meter vor uns lag ein Laib Käse, ein Stück weiter noch einer sowie ein Schutthaufen, der aus Fels und Putz zu bestehen schien. Großvater leuchtete die rechte Wand an. Sie war verschwunden. An ihrer Stelle konnte man die Eingeweide des Berges erkennen: Das eingesickerte Wasser hatte die Erde faulen lassen, und irgendjemand hatte ihr die Haut abgezogen. Was wir jetzt sahen, waren Muskeln aus Fels, Sehnen, Venen und Nerven aus Wurzelwerk: Der Regen hatte die Kellerwand gehäutet.
»Was für eine Katastrophe!«, sagte Großvater, allerdings mit der Stimme eines Menschen, der es gewohnt ist, Schutt und Trümmer zu entfernen. »Hol Kerzen!«
»Wo?«
»Aus der Küche. Im Regal über den Konserven. Und Streichhölzer.«
Ich wollte schon die Stufen hinaufeilen, als ich über einen Metallgegenstand stolperte. Ich hob ihn auf. Es war eine Kette. Das Licht war nur schwach, aber ich konnte ertasten, dass etwas in die Kettenglieder eingraviert worden war. Ich wollte schon fragen, was, als Großvater sie mir entriss.
»Kerzen und Streichhölzer!«, befahl er.
Ich tastete mich nach oben.
Es gab ungefähr ein Dutzend Kerzen, die wir alle anzündeten: zwei auf dem Tisch, vier in einiger Entfernung auf dem Boden und die anderen auf den noch vorhandenen Stellagen. Bald breitete sich ein warmes, katakombenähnliches Licht aus, in dem wir die heruntergefallenen Käselaibe aufsammelten, sie mit einem Tuch säuberten und wieder in die noch vorhandenen Stellagen legten. Ich kann mich nicht daran erinnern, auch nur eine Stunde geschlafen zu haben. Es war seltsam und aufregend, nachts in diesem Licht zu arbeiten. Als wir alle Laibe gerettet hatten – fast alle, die frischen waren unwiderruflich verloren –, sagte Großvater: »Lass uns nach oben gehen. Vorerst bleibt alles so liegen.« Wir waren beide erschöpft, voller Erde und verschwitzt. Das erste Tageslicht erfasste bereits die Bäume im Tal.
»Ich gehe duschen«, sagte ich.
»Und ich mache Tee.«
»Gute Idee – Opa?«
»Ja.«
»Ist das gefährlich?«
»Was?«
»Keine Ahnung, für das Haus oder so.«
»Hast du Angst, es stürzt ein?«
»Der Keller ist das Fundament, oder etwa nicht?«
»Nicht ganz«, sagte er. »Nein, es ist nicht gefährlich.«
»Okay.«
Aber meine Stimme muss irgendwie belegt geklungen haben, denn Großvater fragte: »Glaubst du mir etwa nicht?«
»Doch«, sagte ich nickend und ging in Richtung Bad.
»Zeno.«
Ich drehte mich um.
Großvater musterte mich einen Augenblick. »Danke.«
Ich zuckte die Achseln. »Das war doch selbstverständlich.«
Die Dusche schwemmte all den Schmutz und Schweiß weg. Ich trank Tee und verspeiste ein Stück Nusskuchen, während Großvater sich wusch. Draußen regnete es weiter, eine dichte Wolkendecke war an den Baumwipfeln hängen geblieben, und es sah aus, als würden Stämme und Blätter Dampf und Rauch erzeugen. Ich schlief auf dem Sofa ein.
Am fünften Tag ließ der Regen fast ganz nach. Auf einmal brachen Sonnenstrahlen durch die dichte Wolkendecke, und der Sommer kehrte mit Macht zurück. Das Gras und die Bäume leuchteten in einem intensiven, satten Grün. Im Schlamm wanden sich Regenwürmer. Großvater beauftragte jemanden mit der Kellerreparatur, keine Ahnung, wen. Drei Tage lang wurden Schubkarren hin und her gefahren. Ich half tatkräftig mit. Daran muss es gelegen haben, denn als die Hitze zurückkehrte, hatten sich das Misstrauen und die Anspannung verflüchtigt, die in jenem Sommer des Jahres 1999 zwischen meinem Großvater und mir standen. Zusammen arbeiten reißt Mauern ein.
Auch das hat Eingang in Shukran gefunden. Für einen Geschichtenerzähler ist das Leben eine Art Schwein: Davon wird auch nichts weggeworfen.
Noch am selben Abend tauchte meine Mutter auf, um nach uns zu sehen. In Genua hatte es in diesen fünf Tagen mehr geregnet als sonst im ganzen Jahr, allerdings ohne größere Schäden anzurichten. Sie hatte sie damit verbracht, mit meinem Vater Burraco zu spielen, obwohl sie Burraco noch nie leiden konnte.
Ein kurzer Abriss meines Lebens,
insoweit man sich überhaupt erinnern, die Vergangenheit
rekonstruieren oder imaginieren kann:
was die Erinnerung erhellt
1951–1960
Im letzten Realschuljahr strenge ich mich so richtig an. Gabriele ist auf dem Gymnasium Klassenbester. Ich bemühe mich, nicht der Schlechteste zu sein. Eines Abends höre ich, wie unsere Mutter in der Küche weint. Ich bin mucksmäuschenstill und beobachte sie heimlich. Sie sitzt zwischen
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