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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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Dann sind das Zugticket und die Polenta zu bezahlen. Ich weiß, dass unsere Mutter und Gabriele in Genua ebenfalls Geldprobleme haben. Sie hat angefangen zu arbeiten. Großvater ist krank. Ein Geschäftspartner soll ihn übers Ohr gehauen haben, und er soll tief verschuldet sein.
    Ich wage es nicht, mir von jemandem Geld zu leihen, aber Signora Ramella und Professoressa Scaglioni bemerken meinen finanziellen Engpass. Ich bekomme ein Paket Stifte und eine gebrauchte Jacke geschenkt. Sonntags laden sie mich zum Mittagessen ein. Als ich eines Tages von der Werkstatt komme, bedeutet mir Professore Ferrero, ihm zu folgen. Wir durchschreiten ein großes Tor und betreten das Labyrinth der Firma – Höfe und Warenlager, in denen ich noch nie gewesen bin und in denen ich eigentlich gar nicht sein dürfte. Der Professore fordert mich auf, mit ihm ins Depot zu gehen. Ich betrete es und staune. Dort gibt es alles: Lochkarten, Metallkomponenten, Lacke, Berge von Produktionsabfall. Für die Firma ist das alles Ausschussware, für mich die Lösung all meiner Probleme. Ich kaufe keine Hefte mehr und mache mir Notizen auf der Rückseite von Lochkarten. Benötige ich Klebstoff, findet sich dort mit Sicherheit ein angebrochenes Fläschchen. Benötige ich Draht, Nägel oder einen Haken, stöbere ich sie bestimmt dort auf.
    Ich verdiene mir etwas dazu, indem ich dem Bäcker sonntagmorgens beim Ofenreinigen helfe. Professoressa Scaglioni hat mir den Job besorgt; der Bäcker befindet sich im Erdgeschoss ihres Hauses. Sie schaut kurz vorbei, während ich die Holztheke abbürste, um Mehlreste zu beseitigen. Sie fragt mich, wozu dieses und jenes gut sei, und ich antworte ihr nach bestem Wissen und Gewissen. Sie erzählt mir von neuen Büchern. Manchmal liest sie mir daraus vor.
    »Was willst du später mal werden?«, fragt sie.
    Ich sage ihr, dass ich das nicht weiß.
    »Hast du keine Träume?«
    »Ich träume nie.«
    »Jeder träumt.«
    »Ich nicht.«
    »Das bedeutet nur, dass du dich morgens nicht mehr daran erinnern kannst. Aber glaub mir, auch du träumst!«
    »Wenn Sie das sagen, wird es wohl stimmen.«
    Wenn es heiß ist, trägt sie an den Wochenenden lange, weich fließende Kleider. Im Ausschnitt ist der Spalt zwischen ihren Brüsten zu sehen, darin liegt der Anhänger ihrer Halskette. Unterwegs verhüllt sie ihn mit einem Schal. In der Hitze der Backstube, wo sich der Ofen eine Woche lang immer mehr aufgeheizt hat und diese Wärme nun im ausgeschalteten Zustand nach und nach abstrahlt, lässt sie ihn nach hinten über den Rücken hängen. Ich muss mich zwingen, ihr nicht ins Gesicht zu sehen, damit ich nicht in ihren Ausschnitt schaue. Ich sehe sie nicht an. Auf keinen Fall! Schweißgebadet beantworte ich ihre Fragen. Freundlich, aber stets darauf bedacht, mich mit etwas zu beschäftigen, bei dem ich ihr den Rücken zukehren muss. Als der Chef endlich sagt, dass es genug ist und ich jetzt gehen kann, laufe ich schnell zum Fluss und nehme ein Bad in einer Pfütze unter der Holzbrücke.
    Ich lasse zu, dass das Wasser Müdigkeit und Wunschbilder vertreibt.
    *
    Die Witwe wühlt weiterhin in meinen Sachen. Ich schreibe Briefe, die ich nicht abschicke: an Gabriele, an unsere Mutter. An unseren Vater.
    Ich würde deine Hand nehmen, und du würdest meine Hand nehmen, ich würde dich hochziehen, nur ich kann das, auf dem Bett liegend, Gasgeruch, so verbrachte ich jeden den Tag, und wenn man mich zu Bett schickte, in dem schönen eleganten, lichtdurchfluteten Zimmer voller schöner Bücher, allerdings bei Fremden, bemerkte ich nichts, träumte weiter, ich sehe dich, Papà, du bist da, du grüßt mich mit der einem angedeuteten Winken, du gehst, nicht fortgehen! Aber du gingst langsam fort, weit fort, ich versuchte, dich festzuhalten, aber du löstest dich auf: Brust, Kehle, sie wollten fluchen weinen, aber die Augen blieben trocken. Ich wollte fragen, schreien, wo ist er? Lasst mich los, ich will ihn sehen, berühren, vielleicht sieht er mich, vielleicht schlägt er wieder die Augen auf, reicht mir die Hand, ich werde ihn hochziehen, wir werden zusammen pfeifen und tanzen, das war doch nur ein Traum, alles nur Spaß!
    Die Witwe liest meine Briefe. Ich nehme ihren Geruch am Papier wahr, entdecke ihre Fingerabdrücke zwischen den Worten. Brotkrümel liegen dort, wo ich nie gegessen habe. Wassertropfen, wo ich nie getrunken habe. Ich erzähle Signora Ramella davon, und sie seufzt enttäuscht auf.
    »Ich könnte zu Ihnen ziehen«, sage ich.
    Sie

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