Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
erstarrt, sitzt kerzengrade da. »Tut mir leid, aber das geht nicht.«
Meine zweite Unterkunft gehört einem Polizisten und seiner Frau. Der Sohn wurde zum Wehrdienst eingezogen. Sie vermieten mir sein Zimmer. Man erreicht es über einen Umgang. Auch das Klo ist draußen auf dem Umgang. Die Frau ist freundlich und nachsichtig. Sie hat die Haare zu einem tief sitzenden Knoten gebunden. Er ist grobschlächtig und dumm. Morgens frühstückt er Speck, den er in Grappa tunkt, er beißt in die Schwarzbrotscheiben, dass es Krümel spritzt. Aus irgendeinem Grund hört er gerne Opern. Er hat eine Plattensammlung, ein Grammophon aus Holz und Kupfer auf einem Tischchen in der Küche. Nachmittags kommt er manchmal zu mir ins Zimmer, wenn ich gerade lerne, und sagt: »He, du! Komm, ich spiel dir ein Stück vor, von dem du noch morgen berauscht sein wirst.«
»Ich muss lernen«, erwidere ich.
Er tritt näher, klappt mein Buch zu. »Das kannst du später immer noch. Die Worte laufen dir schließlich nicht weg!«
»Nein«, sage ich. »Aber die Zeit.«
Irgendwann stehe ich schließlich auf und gehe in die Küche, um mir die Oper anzuhören, wenn auch höchst ungern. Gabriele mag Opern und Symphonien, ich nicht. Ich mag leichte Musik, Schlager, die ich zufällig im Radio höre und die gleich wieder verklungen sind, keine Spuren hinterlassen, und zu denen man nichts sagen muss, weil es nichts dazu zu sagen gibt – schließlich klingen sie alle gleich.
Der Polizist und seine Frau streiten oft, vor allem abends. Wenn er zu viel trinkt, schlägt er sie, doch vorher wickelt er seine Hand in einen Lappen. Sie vertraut sich niemandem an: »Ich bin gestürzt, ich habe eine Baumwurzel übersehen, diese blöde Tür, die von selbst aufgeht!«
Eines Nachts höre ich sie weinen, am nächsten Morgen fragt sie mich: »Hast du gut geschlafen?«
»Ich bin wach geworden, als Sie in die Kommode geflogen sind.«
Sie wird leichenblass.
»Sie haben geweint«, sage ich.
»Bauchkrämpfe. Die Pflaumen. Ich habe zu viel davon gegessen.«
»Sie sollten ihn anzeigen.«
Sie bringt mir die Milch und murrt: »Du weißt nicht, wovon du redest. Sei ruhig!«
Das Klo auf dem Umgang wird von drei weiteren Wohnungen mitbenutzt. Im Winter ist es eine Qual, die Hose herunterzulassen: Die Oberschenkel erfrieren und werden blaurot. Wenn es so kalt wird, dass das Wasser in der Dachrinne Eiszapfen bildet, geht der Polizist nicht hinaus, sondern pinkelt ins Waschbecken. Anschließend wäscht seine Frau das Gemüse darin. Nur er darf das, sagt er. Aber eines Morgens werde ich wach und muss auf die Toilette. Draußen ist alles von einer dicken Eisschicht bedeckt: die Fensterscheiben, die Bäume, die Wäscheleinen. Heimlich schleiche ich mich in die Küche, klettere auf einen Stuhl und pinkle ins Waschbecken. Ich höre, wie eine Tür aufgeht. Vor lauter Schreck, ertappt worden zu sein, geben meine Beine nach. Ich verliere das Gleichgewicht, falle, schaffe es aber nicht, den warmen Strahl zu unterbrechen. Er folgt dem Bogen, den ich im Fallen beschreibe, benetzt den Tisch, die Kommode, das Grammophon, die Schallplatten, bis er kleine Pfützen auf dem Boden bildet.
Ein Schatten gleitet über die Wände und türmt sich vor mir auf. Ich spüre, wie die Hand des Polizisten meinen Hals umklammert, mich an den Haaren zieht. Aber dem ist nicht so. Es ist die Hand einer Frau, einer Mutter. Eine Hand, die mich unter den Achseln stützt, mein wildes Herzrasen beruhigt und sagt: »Komm, jetzt wischen wir alles auf. Los, beeilen wir uns, bevor er wach wird und frühstücken will!«
*
Eines Sonntags lerne ich bei Signora Ramella eine jüdische Familie kennen, die erst vor Kurzem hergezogen ist. Dazu gehören drei Kinder; ein Sohn, Gioele, ist genau in meinem Alter. Sie schließen mich ins Herz und bestehen darauf, dass ich ab und zu zum Abendessen komme. Ich zögere, denn sie sind sehr reich. Sie wohnen in einer Villa mit einem großen Garten. Gioele ist immer gut gekleidet, und ich habe nichts Passendes anzuziehen.
»Wir würden uns freuen, wenn ihr euch anfreundet, Gioele und du«, sagen sie.
Ich nicke.
»Kommst du nächsten Sonntag zum Abendessen?«
Nein, denke ich, sage aber: »Vielen Dank für die Einladung. Ich komme gern.«
Ich suche meine besten Sachen heraus: die Hose mit den wenigsten Flicken, das Hemd mit dem saubersten Kragen, eine Wollweste. Doch als ich am nächsten Sonntag die Stufen zu ihrem Wohnzimmer hocheile, fühle ich mich unwohl. Am liebsten würde
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